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Das Chaos der Zufälle des Lebens

Herbst 1961: Der Fallschirmsprung über der Kakteenwüste von Arizona war der größte Traum von Laurens Baltruscheit Iversens Großvater. Nachdem die Sache schiefgegangen ist, muss der Enkel sehen, was er mit Opas Leiche anfängt, mit dessen jugendlicher Freundin Taleesha, dem alten Rum und dem Wohnwagen, mit Dorothy, die ihm bei einem Tornado in Iowa zufliegt, und ihrem Freund Hunk, der alten Vogelscheuche. Sie alle wird er in New York los, doch das Schiff, von dem er annimmt, es bringt ihn nach Dänemark zurück (oder zumindest in die Richtung), ist unbestreitbar in andere Gefilde unterwegs.
Eine weltweit agierende Mariachiband, fliegender Kartoffelsalat, ein Mann, der über den Lake Michigan schreitet, die endgültige Begegnung mit einem Eisbären, eine Flucht durch den Urwald, ein westfälischer Matrosenhintern in Öl, eine musikalische Gespensterfamilie, der Ritt einer Greisin auf der Schildkröte, fliegende Pinguine und drei
frivole Cousinen aus Punta Arenas, ein Tod, ein neues Leben und die Liebe zu Suleika – dies alles und noch viel mehr begegnet Laurens Baltruscheit Iversen auf seiner unfreiwilligen Reise. Das Chaos der Zufälle des Lebens: Man kann darin den Sinn suchen oder es einfach als schräge Geschichte lesen, die zuweilen böse enden kann.


Stefan G. Wolf

Eine schräge Geschichte, die böse endet

Taschenbuch, 384 Seiten, 13,99 EUR

E-Book, 5,99 EUR



»Ein Buch, das man nur mit

angehaltenem Atem lesen kann,

packend bis zur letzten Wendung.«


Lese-Schnipsel

Opas Fallschirm öffnete sich nicht, wehte nur wie ein fadenscheiniges Fähnchen hinter ihm her. „Das war’s“, dachte ich laut, aber wenigstens hatte ich noch Funkkontakt.
„Was ist nun mit dem Wohnwagen?“ brüllte ich gegen den Wind an, der seit Tagen von Norden hereinblies.
„Kannste haben“, rauschte es aus dem Funkgerät, und Opas Stimme klang wie die eines Stummfilmschauspielers, der zum ersten Mal Gedichte über den Volksempfänger verbreitet.
„Und der Zapaca-Rum?“
„Kannste haben.“ Die Flasche war genau so alt wie Opa, und wenn das hier so weiterging, dann würde sie morgen erstmals älter sein als er.
„Und Taleesha?“ schrie ich völlig panisch ins Mikrofon, denn jetzt konnte ich schon die angstvollen Fürze hören, die der alte Mann auf dem Weg nach unten fliegen ließ.
„Kannste“, war das letzte bedeutungsschwere Wort, das mein Opa von sich gab.
(…)
In diesem Augenblick erfasste ihn eine Bö, und er wurde noch einmal in die Höhe gerissen. „Juhuu“, jubelte er, während ihn der kalte Morgenwind über die Grenze nach La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios trieb.
Ich kannte den Ort, hatte mich dort vor der Kirche gleichen Namens ein paar Tage zuvor ausgekotzt, und alle Einwohner hatten mir dabei zugesehen. Das ist der einzige Ort auf der Welt, der weniger Einwohner hat als Buchstaben im Ortsnamen, behaupte ich jetzt mal so. Ich hätte Opa dieselbe Aufmerksamkeit für seinen Touch-down gewünscht, aber da war nur ein Tohono O’Odham-Indianer, der sich gerade zur Entleerung seines Darms hinter einen Chaparralbusch zurückgezogen hatte, während ihm Opa vor die Füße fiel.
(…)
Der Kothaufen des Indianers dampfte noch in der kühlen Morgenluft, aber Opa begann schon kalt zu werden. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er gleich die Augen öffnen und auf die Füße springen würde. ‚Buhuu! Hast du dir etwa Sorgen gemacht? Nun nimm mir doch endlich den verdammten Fallschirmsack vom Rücken, das verfluchte Ding hatte seine eigenen Pläne.‘ Ich blieb ein paar Minuten bei ihm stehen, weil ich immer noch darauf wartete, dass er sich etwas für mich einfallen lassen würde. Aber nein, von seiner Seite kam nichts mehr. Also holte ich den Klappspaten von der Ladefläche und stieß ihn in den trocknen Boden. * 11. November 1899 zu Nikolaiken (Masuren), † 16. August 1961 zu La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios. Das passt auf keinen Grabstein, dachte ich, während ich mich abmühte, ein Loch in die Wüste zu graben.
(…)
Taleesha fand ich schließlich dort, wo sich die State Route Nr. 86 gabelt und dabei die Nr. 85 nach Süden entlässt. Sie saß im Schneidersitz am Straßenrand, hatte eine leere Cola-Flasche in der Hand und starrte auf den Liquor Store auf der anderen Straßenseite. „Mann, einhundertsiebenundsechzig Einwohner, aber ein Schnapsladen!“, sagte ich, als ich mich neben sie setzte.
„Die haben auch Cola und Sprite“, gab sie mir zur Antwort. Wir schwiegen, während die kalte Wüstenluft, die immer noch beständig aus dem Norden blies, unsere Nackenhaare aufstellte. Ein paar Knöpfe ihrer Bluse hatten ihr Loch nicht gefunden, und ich genoss es. „Und Rice Krispies und Pretzels und Fritos Corn Chips“, ergänzte sie die Angebotspalette des Spritladens. Sie schaute mich traurig an, so dass ich mich entschloss, noch nicht über das Unvermeidliche zu reden.
(…)
„Schweigen hilft dir nicht, Amigo“, sagte der Stiefelmann, der sich eine Zigarre aus der Brusttasche gezogen hatte und ein Streichholz an der Stiefelsohle anriss.
„Mein Name ist Laurens Baltruscheit Iversen und ich habe einen dänischen Pass“, kotzte ich ihm meine Identität vor die bestiefelten Füße.
„Einen dämlichen däppischen dänischen Pass“, äffte der Boss. „Was soll das sein: ein dänischer Pass? Habt ihr schon mal was von einem Land gehört, das Dänien heißt?“
„Nein, Boss“, bestätigten ihm die beiden den Erfolg ihrer Schulbildung, und der Boss fuhr fort: „Dänien, gleich neben Hernien und südlich von Spermien“, und alle schütteten sich aus vor Lachen.
(…)Ich öffnete das Fliegengitter und klopfte gegen die Eingangstür. Nach ein paar Minuten erschien ein junger Mann, und ich fragte ihn, ob der Doktor zu sprechen sei.
„Ich bin der Doktor«, sagte er, »wo steht die Kuh, das Pferd, das Schwein?“
„Mein Opa“, sagte ich und zeigte auf den Pick-up. „Er wollte noch mal das Meer sehen, meiner Schwester und mir zeigen, wo er Großmutter zum ersten Mal geküsst hat, und dann …“ Ich überließ es der Fantasie des Tierarztes, die Geschichte zu Ende zu spinnen.
„Herzschlag?“ fragte er, und ich zuckte mit den Schultern und nickte mit dem Kopf.
„Dann hilft ihm wohl kein Einlauf“, sagte der Doktor, der ein ordentliches Amerikanisch sprach, jedenfalls glaubte ich, das Wort Clyster gehört zu haben.
„Es geht uns um den Totenschein“, ich hatte nach dem Wort Death Certificate gesucht, sagte aber Death Licence. Der Doktor verzog jedoch keine Miene.
(...)
„Wie war’s bei den Chicos?“ – „Wir können aber auch ganz schön heiß hier oben.“ – „Hast du Mabel ’nen Kaktus mitgebracht?“ – „Nun mal her mit dem Tequila!“ – „Treffen sich zwei Mexikaner beim Metzger …“ – lauter solche Sachen, über die man zwischen all dem Händeschütteln und Schulterklopfen und Umarmen nur hinweggrinst. Bis zu dem Augenblick, wo Großtante Margret die Frage aller Fragen stellt: „Wo habt ihr denn Hänschen gelassen?“
Ich weiß bis heute nicht, welchen Teil meiner Erzählung sie geglaubt haben: Das mit dem Fallschirm, das mit dem lutherischen Pastor, der zufällig vorbeikam und Opa beerdigt hat, oder das mit seinen letzten Worten. „Hat er noch etwas gesagt?“ – „Ja, doch, ich hielt ihn in den Armen, etwa so, und er schaute mich glücklich lächelnd an.“ – „Und was hat er gesagt?« Mir fiel nichts Besseres ein als: „O Junge, wir sind dem Bertil noch einen Hahn schuldig, entrichte ihm den, und versäum es ja nicht.“ – „Ja, so war er, treu und gewissenhaft bis zum Ende“, sagte Mabel und alle nickten, obwohl sie ihn erst wenige Wochen zuvor persönlich kennengelernt hatten.
Es wurde dann doch noch ein lustiger Samstagabend.
(...)
Ich stand auf. Etwa zehn Meter weiter sah ich Taleesha, sie blickte nach oben, und ich folgte ihrem Blick. Wir standen inmitten einer Wolkenkathedrale, deren Wände sich um uns drehten, unten schwarz, dann allmählich heller werdend, bis sie in strahlendem Weiß den Himmel berührten. Der schaute in einem makellos hellen Blau zu uns herunter, das Blau, wie ihn der Mantel der Gottesmutter auf manchen Gemälden hat, so ein Alles-wird-gut-Blau, ein Wohlfühl-Blau, ein Willkommen-im-Paradies-Blau. Ich hatte einen starken Verdacht, aber noch schienen wir zu leben.
Das Blau des Himmels hatte etwas Tröstliches, Verheißungsvolles, denn hier unten waren alle Farben verschwunden, und das nicht nur in irgendeinem übertragenen Sinn, sondern ganz real. Taleesha war schwarz und ihre Augen weiß mit einem schwarzen Klecks in der Mitte, meine Hände und Arme waren grau, grau waren unsere Kleider, grau der Boden unter unseren grauen Schuhen, als hätte plötzlich jemand mitten im Film von Technicolor auf Schwarz-Weiß umgeschaltet.
(...)
„Mein Opa konnte übers Wasser gehen“, sagte ich laut zu den beiden anderen, die es sich auf der Rückbank bequem gemacht hatten.
„O Jesus“, entfuhr es Taleesha, „ohne Scheiß jetzt?“ fragte Dorothy, und ich nickte. „Mann, cool“, fügte Dorothy hinzu und Taleesha ließ ein „Wie konnte er …“ unvollendet stehen.
„Keine große Sache“, antwortete ich mit Opas Worten, und ich weiß nicht, was mich geritten hat, aber es rutschte mir einfach so heraus: „Kann ich auch.“
Soweit ich mich erinnern kann – mein Gott, das ist wie gesagt eine Ewigkeit her – sind wir bei Burns Harbor ans Ufer runtergegangen, und ich habe mir vorsorglich Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Der Wind blies sanft, aber beständig aus Süden, als ich die Wasserfläche betrat. Wahrscheinlich hat sich keiner so sehr gewundert wie ich, als ich tatsächlich die ersten Schritte machte. Die kleinen Wellen kitzelten an den Fußsohlen, aber sonst war alles ok.

(...)

„Wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren.“
„New York!“ rief es von der Rückbank wie aus einem Mund.
„Ja, genau: New York“, bestätigte ich, und die beiden begannen zu singen: „Start spreadin’ the news, I’m leaving today, I want to be a part of it: New York, New York!“ Auf der Ladefläche des Pick-Up flatterten meine Kleider im Wind, und ich hoffte, dass sie bis zum Abend so weit trocken sein würden, dass ich nicht länger splitterfasernackt durch Amerika fahren musste. Taleesha hatte mir eine Jacke mit einer großen rosa Schleife umgehängt, damit ich nicht zu viel Aufsehen erregte, aber wahrscheinlich erregt ein Mann, der mit bloßem Oberkörper einen Pick-up steuert, im Mittleren Westen weniger Aufsehen als einer, der dabei eine rosa Jacke trägt.
(...)
Ob wir uns noch mal wiedersehen, fragte ausgerechnet Hunk, dem ich so viel Empfindsamkeit und Weitblick gar nicht zugetraut hätte. Niemand antwortete darauf sofort. Nach einer Weile sagte ich: „Ok, so machen wir’s! Hier, genau hier, und zwar am selben Tag in … wie vielen Jahren?“
Mein Blick fiel auf die Menükarte vor uns auf dem Tisch. 40 Jahre Jaffah Kosher Deli stand oben drauf. „Was haltet ihr von vierzig Jahren? Mit Kindern, Gehhilfe und falschen Zähnen!“ Alle lachten. „Ja, so machen wir’s, aber dann schon zum Frühstück, damit wir genügend Zeit haben“, – „ja, ja zum Frühstück, so halb neun, neun, am 11. September 2001“, („du meine Güte: geht das denn überhaupt, ich meine das mit den Zweitausend?“ warf Dorothy ein), „genau hier in der Cortlandt Street 17. Das wird bestimmt ein Mordsspaß!“
(...)
Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam. Ich bin kein Seemann und auf dem Atlantik gibt es auch keine Straßenschilder, aber mir war schnell klar: Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam, nicht nach Antwerpen und nicht nach Hamburg, auch nicht nach Southampton oder Le Havre, sie fuhr überhaupt nicht nach Osten. Selbst wenn man wie ich die meiste Zeit unter Deck verbringen musste, sieht man irgendwann mal die Sonne an Backbord aufgehen und an Steuerbord untergehen. Wir fuhren also geradewegs nach Süden. Ich deutete auf den Fußboden und fragte: „Nach Rotterdam?“ gerade so als ob das der Bus von Vejlby nach Skaade sei und Tante Liv mich an der Haltestelle Fredens Kirkegaard erwartete. Der Seemann schaute mich verwirrt an und zuckte mit den Schultern. „Donnoh“, sagte er und war schon verschwunden.
(...) 
In diesem Augenblick nahm ich ein Licht vor mir wahr und eine Bewegung hinter mir. Das Licht vor mir schien von einem Schiff zu kommen, die Bewegung hinter mir von einem Fisch, einem sehr großen Fisch. Ich schaute über die Schulter nach hinten, ganz vorsichtig, um in meiner Nussschale nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, und sah langes goldblondes Haar, wasserblaue Augen, Sommersprossen, eine Stupsnase und einen kirschroten Mund, gerade so wie die Galionsfigur an der Valkyrien, die ich mal in irgendeinem Schifffahrtsmuseum auf Seeland gesehen hatte. Der Kopf hob sich aus den Wellen und spie einen Schwall Salzwasser aus, lachte mich an und klimperte mit den Wimpern, an denen Tropfen im Mondlicht funkelten wie Diamanten.
(...)
Ich hatte bis dahin geglaubt, Schaufelraddampfer gäbe es nur auf dem Mississippi, doch die Suriname Rivier Vervoer Maatschapij BV ließ ihr Flaggschiff Trots en Eer auf dem Suriname-Fluss hoch- und runterfahren. Das hätte ich gern mal erlebt, eine Flussfahrt durch den Regenwald, aber der Herr Baron, kaum dass die Kisten und Ballen an Bord verstaut waren, scheuchte uns zu einem Pick-up, ähnlich dem, den ich quer durch die Staaten gelenkt hatte. Auf der Ladefläche stapelten sich Kästen, Tüten und Säcke, einiges davon erkannte ich von unserer Einkaufstour wieder, und während das Paar vorne bei dem einheimischen Fahrer einstieg, verwies mich der Herr Baron auf die Ladefläche. „Nein, nein, Goofy kommt mit nach vorn“, widersprach Wilhelmina wieder einmal, „das wäre ja noch schöner“.
Als wir die letzten Holzhäuser Paramaribos hinter uns gelassen hatten, begann das Verhör.
(...)
Der Abend meiner Ankunft setzte den Rahmen für unser Zusammenleben in Hemel op Aarde, dem Himmel auf Erden im guayanischen Urwald, denn meine Position auf der Plantage etablierte sich in diesen Stunden zwischen Familiengeschichten („… und dann sagt Alex zu ihrem Lateinlehrer …“) und unmissverständlichen Anweisungen („Geh in die Küche und hole uns noch von dem Käse!“), zwischen Scherzen („Wenn Laurens Goofy ist, dann möchte ich Dagobert sein“) und Zurechtweisungen („Nicht auf die Polster, nimm dir einen Stuhl!“). Ich war kein Domestike, aber auch kein Freund der Familie – ich wurde wohl als so etwas wie ein rangniedriges Mitglied des Hofstaates angesehen, das sich nützlich machen muss, aber auch schon mal von dem Brandy abbekommt.
Das änderte sich schlagartig an dem Tag, an dem ich das Wienerbrød gebacken habe.
(...)
Alexandra malte. Sie malte nicht, weil ihr das Sticken zu langweilig geworden wäre oder weil ihr die Freuden der Jagd versagt waren, sie malte aus Leidenschaft. Niemand hatte ihr all das beigebracht, was man wissen muss, bevor man zum ersten Mal den Pinsel auf die Leinwand setzt: Sie tat das von sich aus, so wie sie es sich dachte, dass es sein sollte. Freigebig füllte sie große Leinwände und kleine Malpappen mit Farben, die sie nie so nahm, wie sie aus der Tube kamen, sondern zu den verwegensten Farbtönen mischte, und formte aus ihnen fantastische Hirngespinste. Wenn ich sie besuchte auf der kleinen Terrasse, die ab Mittag im Schatten lag, dann beobachtete ich mit Hingabe, wie sie an einem Bild arbeitete, betrachtete ihre schöne, leicht gewölbte Stirn, und dachte: da, da, da, da entsteht der Gedanke, jetzt hat sie ihn losgeschickt zum Arm, zu ihrer Hand, zu ihren Fingern, die mit sicherer Bewegung die Idee materialisierten.
(...)
Kurz nach Mitternacht rollte Alex in die Küche, wünschte mir alles Gute fürs neue Jahr und hauchte mir eine Extraportion Feenstaub auf die Lippen, nein, um ehrlich zu sein – es war ein richtiger Kuss, dann sagte sie atemlos: „Ich muss hier weg!“
„Ok“, antwortete ich müde, „jetzt gleich oder kann ich noch das Hemd wechseln?“
„Ich halte es hier nicht mehr aus, Laurens. Ich bin 23, ich kann sehr gut selbst wissen, was ich will.“
„Und was willst du?“
„Ich will malen, also richtig malen, ich will es lernen.“
„Du willst lernen? Was willst du denn noch lernen? Alex, du bist perfekt!“ Ich nahm ihre Hände. „Du bist perfekt und deine Malerei ist perfekt.“
„Danke, das ist lieb, aber ich weiß doch gar nichts. Ich will nach New York oder Paris oder von mir aus auch zu Tante Caroline in Amsterdam, aber ich kann doch nicht in diesem Rollstuhl mitten im Urwald darauf warten, dass mein Leben auf einem Silbertablett vorübergetragen wird.“
„Wir müssen das genau planen.“
„Also kaltblütig.“
„Genau, kaltblütig.“
(...)
Dann ging das Licht aus, die Sonne war weg und es war finstere Nacht. Das Boot trieb ruhig dahin, an beiden Ufern zogen ab und zu Feuer und beleuchtete Hütten vorbei, Kofi Kamiza, Ana Kondé, Grand-Santi kommentierte Alex. Unter uns das samten schimmernde Wasser, über uns der unglaublichste Sternenhimmel meines Lebens. Ich hatte mich bald neben Alex gelegt und schaute nach oben. „Komm mal her“, sagte sie, „ich will dir was geben“. Sie nestelte an ihrem Hals und dann sah ich etwas im Mondlicht funkeln. „Das sollst du tragen, es ist ein Nashorn-Käfer aus Achat“, und als ich mich verlegen wand, „das können auch Männer tragen, verwegene Entführer wie du“. Ich küsste sie und dann lagen wir wieder nebeneinander. Ihre Linke griff nach meiner Rechten und drückte sie. „Wenn alles schief geht: Diese Nacht war es wert“, sagte sie leise, ganz leise, vielleicht um nicht die murmelnden, gurgelnden Flussgeister zu wecken.
(...)
Das Angelus-Läuten der Glocken von Saint-Laurent-du-Maroni klang über das propere Städtchen und breitete sich über die niedrigen, in der Mittagshitze schmorenden Häuser bis zur Mitte des Flusses aus, wo ich gerade die Île de la Quarantaine unglücklicherweise umschifft hatte, das letzte Hindernis auf meinem direkten Weg über den Atlantik und nach Afrika. Mit dem Glockenklang senkte sich auch dieser unvergleichliche Duft eines Pot-au-feu auf mich und mein Gemüt, Rindfleisch, Möhren, Rüben, Porree, Sellerie und Zwiebeln, vor allem aber die letzten drei, die sich ganz klar heraushoben aus diesem olfaktorischen Gruß, der die intensivste Begegnung mit Frankreich darstellte, die mir vergönnt war, vertreten durch seine Kolonisten zwischen den Wassern des Maroni und des Oyapock.
(...)
Bouillabaisse war aus und die Hackbällchen hatte Rigoberto zum Angeln verwendet, was mir allerdings wiederum zu einer ausgezeichneten Makrele verhalf. Der Kurze und der Lange, ich will sie in Zukunft mit ihrem Namen nennen, den ich beim Abendessen in der Messe der Mannschaft erfuhr: Beat und Rüedi, sie waren ständig um mich her, als sei ich der König der Meere und sie meine Leibdiener. Dabei war ich eher ein Clochard der Wellen, wenn ich so an mir hinuntersah und meine Körperfalten beschnüffelte. Alles, was ich gerettet hatte, war ein bisschen Wäsche, eine holländische Bibel, die mir der Baron geschenkt hatte, einige persönliche Papiere und verworrene Tagebuchaufzeichnungen auf einem Notizblock von Lowe’s Home Improvement Hardware Store in Omaha, Nebraska, der noch nicht abgeschickte Brief an meine Mutter, der halbe Briefumschlag meines Großvaters und ähnliche Kleinigkeiten. Ach so, ja, klar, da war noch das zusammengerollte Gemälde von Alex, und die Flasche Zapaca-Rum von Opa, die gab es auch noch, immer noch unangetastet seit dem Jahr 1899. Und überdies: Alexandras Malkasten.
(...)
Wir hatten etwa zweieinhalbtausend Seemeilen vor uns, da könnte ich ja noch viele Porträts malen, wenn mir nicht vorher die Farbe ausginge. Das war nebenbei ein Problem: Bald hatte ich kaum noch Rot und Blau, die Gemälde tendierten nach Varianten von Zitronengelb und Kastanie, Minze und Papaya, Sandbraun und Seegrün. Danach langte ich endgültig in meiner monochromen Periode an, in der ich nur noch Schwarz und Weiß zur Verfügung hatte. Die Crew hatte dieses Farbenspiel verfolgt und die zunehmende Beschränktheit als bewusste fortschreitende Abstraktion wahrgenommen. Jetzt brachten sie bevorzugt starkfarbige Untergründe an (eine rote Warntafel, eine grüne Stuhllehne), auf denen sich meine beiden verbliebenen Farben sehr vorteilhaft abhoben. Irgendwo zwischen Bahia und Rio de Janeiro war es dann so weit: Ich hatte Alexandras Farbtuben bis auf das letzte Tröpfchen ausgequetscht.
(...)
Es dämmerte, wie ich es schon lange nicht mehr hatte dämmern sehen, und ich trat ans Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, das Wasser tropfte aus dem bunten Blätterdach des Gartens, der von Streifen von Licht aus dem Salon und wer weiß woher beleuchtet war. Da sah ich sie. Sie trug ein grünes Kleid und war barfuß, ihr kastanienbraunes Haar flog vor und zurück, wenn sie sich auf der Schaukel, die an einem mächtigen Platanenast aufgehängt war, vor- und zurücklegte, vor- und zurückschwang. Ihr Gesicht konnte ich nicht richtig erkennen, dafür war es schon zu düster, noch dazu im Schatten der Bäume, sie war zu weit entfernt und der Schleier ihrer Haare verbarg ihre Züge. Ich öffnete das Fenster, und sofort hörte ich, dass sie sang, während sie auf der Schaukel hin- und herpendelte. Zunächst konnte ich nicht verstehen, was es war, ein Lied, ein Schlager, vielleicht etwas aus einer populären Musikrevue, eine Opernarie vielleicht (schließlich war sie die Musikerin in der Familie). Dann sprang sie ab, fing sich und drehte sich langsam auf der Wiese, die an die Blumenrabatte hinter dem Haus grenzte.
 (...)
„Ich will, dass sie mir ein solches Bild malen: von mir, meiner Frau, meiner Tochter und Gotthold. Kost und Logis, Taschengeld, und ein Rückfahrticket, wohin auch immer Zurück für Sie ist.“
„Ich habe aber keine Farbe mehr“, erwiderte ich etwas unbeholfen. Ich weiß nicht, warum ich das sagte, vielleicht wollte ich ganz einfach aufhören mit dieser Aufschneiderei, vielleicht war es ja auch so, dass ich endlich nach Hause wollte.
„Je vous en prie“, antwortete er mit abfälliger Handbewegung, „das sollte doch kein Problem sein, ich kaufe Ihnen jede Farbe, die Sie benötigen für Ihre Kunst“.
Und so nahm ich meinen Rucksack und den Malkasten auf, um mit Dr. Balthasar Zurbriggen in sein Domizil aufzubrechen. „Ist das Ihr gesamtes Gepäck?“, fragte er, während wir zu einem der schwarz-gelben Taxis gingen, die am Kai warteten.
„Mehr ist mir nicht geblieben, nach all dem, unterwegs“, erklärte ich ihm.
„Nach all dem? Das müssen Sie mir bei Gelegenheit mal erzählen.“
O nein, sagte ich mir, das werde ich ganz gewiss nicht.
(...)
Er sprach gern über seinen Hund, einen Dackel (oder Teckel, wie er sagte), schwarz-braun (oder schwarz-rot, wie er es bezeichnete), Kurzhaar (darin waren wir uns einig). Der Hund war gut erzogen, alle Achtung, denn er blieb während des gesamten Abendessens brav auf seinem Deckchen in der hintersten Ecke des Salons liegen. „Er ist ein ganz ein Braver“, sagte denn auch der Doktor, lächelte den Dackel verliebt an und winkte ihm zu.
„Wie heißt er denn?“ fragte ich, wie man ja Eltern und Hundebesitzer immer nach dem Namen ihres Lieblings fragt.
„Gotthold, hmm, mein Gotthold.“ Mein Gastgeber konnte die Fragezeichen auf meiner Stirn nicht übersehen. „Wie Lessing, Gotthold Ephraim Lessing, in Deutschland leider weit unterschätzt.“
„Ihren Hund kennt man in Deutschland?“ fragte ich ungläubig.
„Ich meine natürlich Lessing. Wussten Sie, dass Lessing der erste deutsche Dramatiker ist, dessen Werk bis heute ununterbrochen in den Theatern aufgeführt wird?“
Ich schüttelte stumm den Kopf. Hätte ich ihm sagen sollen, dass Lessing einer der vielen deutschen Dramatiker ist, die mir bis damals ununterbrochen unbekannt waren?
(...)„Wie haben Sie Ihre Bücher sortiert?“, fragte mich Zurbriggen, und ich hörte schon aus der Frage heraus, dass er nicht an der Antwort interessiert war, sondern nur an der Gelegenheit, mir sein System erklären zu können.
„Sortiert?“, fragte ich zurück und dachte an die zwei Bretter aus Kiefernholz in meinem Zimmer zuhause. Auf dem einen stand der Pokal, den ich beim Eisstockschießen der Feuerwehrkameradschaft gewonnen hatte, umgeben von Mitbringseln, die meisten hatte mir mein Opa mitgebracht, denn ich war bis dahin noch nicht viel in der Welt herumgekommen. Auf dem anderen, darunter, hatte ich ein paar Bücher abgestellt, ein paar Bände Rasmus Klump, James Fenimore Cooper: Leder­strumpf, ein Handbuch für die Simson SR1 (ich weiß nicht, wie Opa das DDR-Moped nach Dänemark geschafft hat), Hemingway: Der alte Mann und das Meer, den Katechismus der Folkekirken. „Na ja, ich denke, geradeso wie ich sie gelesen habe, in der Reihenfolge halt“, antwortete ich.
„Ja, das klingt vernünftig, damit haben Sie stets die Spur Ihres Weges durch die Literaturgeschichte vor Augen und damit Ihre eigene Entwicklung, um nicht zu sagen: Menschwerdung.“ Ich nickte.
(...)
„Es gibt da eine Szene, die Königin schaut auf die Straße vor ihrem Exil-Palais, draußen schneit es und ein Fiaker mit zwei Rappen fährt vorbei, der Kutscher schaut unvermittelt nach oben zu dem hell erleuchteten Fenster der Villa und zieht in Richtung der Königin den Hut. Da sagt die Königin, Natalija war ihr Name, zu ihrem Sohn: Soarta ia doar ceea ce soarta a dat înainte. Sie war nämlich vormals eine rumänische Prinzessin aus dem Bojaren-Geschlecht der Wassilko. Das, was Natalija an diesem trüben Winterabend ihrem Sohn mit auf den Lebensweg gab, habe ich mir, seitdem ich das Buch gelesen habe, zum Wahlspruch gemacht.“
„Ein sehr schöner Spruch, vor allem auf Rumänisch.“
„Ja, nicht wahr? Das Schicksal nimmt nur das, was das Schicksal zuvor gegeben hat. Wie wahr! Also: Suchen Sie mir das Buch, ich weiß nicht mehr, wie es heißt und wer es geschrieben hat. Aber es muss hier sein, hier in diesem Raum. Ich muss jetzt ins Büro, aber Sie haben ja Zeit.“
Und damit ließ er mich allein.
(…)
Das Telefon war eines dieser alten Apparate, bei denen die Gabel mit dem Handteil hoch aus dem schwarzen Kasten aus Bakelit herausragt, ziemlich prätentiös, und man musste ein paar Mal auf die Gabel klopfen, dann meldete sich die Vermittlung und man sagte so etwas wie: „Bitte Reducto 357« oder „Verbinden Sie mich mit Punta Gorda 951“.
Sie klang ganz schwach und ängstlich, aber das machte bloß die Entfernung, als sie sagte: „Laurens, hier spricht deine Mutter. Was ist los? Was machst du? Was ist passiert? Wo bist du? Wann kommst du heim?“, und bevor ich auch nur eine einzige ihrer Fragen beantworten konnte, empfahl sie mir (und jetzt war ihre Stimme ganz nah): „Du solltest mal Mette anrufen.“
„Ja, ja, mach ich noch“, antwortete ich ein wenig zu eifrig, weil mir in diesem Moment siedend heiß einfiel, dass ich keine einzige Minute in all den langen Monaten an meine Freundin gedacht hatte.
„Gib mir mal deine Adresse, du rufst ja doch nicht an, dann kann sie dir wenigstens schreiben, wie sich das jetzt verhält mit euch.“
„Wie sich was verhält?“, fragte ich aufgeschreckt zurück.
„Na, das wird sie dir dann ja schreiben.“ Also diktierte ich ihr die Adresse von Dr. Balthasar Zurbriggen, buchstabierte Avenida Lucas Obes und legte den Hörer mit zitternder Hand auf die Gabel.
(…)
„Ich möchte María Luisa und Stella einmal meine Heimat zeigen, Luzern, den Vierwaldstätter See, den Pilatus, das Tomlishorn, Röschti, ein Gschnetzeltes …“ wieder seufzte er tief, oder war das schon ein Schluchzen? „Aber ich sitze hier, in diesem Haus in Montevideo und spiele den Attaché. Sie wissen, was attaché wörtlich heißt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Der Angehängte, Festgeklemmte, Angebundene.“ Dann stürzte er den Rest aus seinem Glas hinunter, während Rosalía den Kaffee servierte.
Wir blieben sitzen und tranken von dem Weinbrand, und er redete, er redete und redete. Und ich hörte zu, es war teilweise wirres Zeug aus Anschuldigungen, Selbstmitleid, unvollendeten Plänen. Tiraden. Dann wurden die Pausen häufiger und länger, irgendwann im Lauf des Abends packte er auf einmal meine Hände und drückte sie und erzählte mir das von dem Mädchen in Luzern. „Ich erzähle Ihnen das wegen dem Brief, den Sie heute bekommen haben, von der Frau oder ‚so ähnlich‘.“ Er ließ meine Hände los, goss uns beiden nach und begann.
(...)
Der junge Mann schob sein Glas zurück, erhob sich, ging auf sie zu und streckte seine Hand aus. Als sei das ihr Zeichen, nahmen die Musiker, die pausiert hatten, ihre Instrumente wieder auf, die Bandoneons ließen einen aggressiven, aufreizenden Akkord hören, umgehend setzten die anderen ein, und dann tanzten sie, der junge Mann und die Dame, als habe sie das Schicksal nur zu diesem Tango zusammengeführt.
Eine Romanze? Ach was, ein Ritual, das sich nur hier, in diesem Salon, auf diesem Parkett, zwischen zwei fremden Menschen vollziehen kann, die sich vielleicht nie zuvor gesehen haben und nie mehr wiedersehen werden. Oder die jeden Freitagabend hierherkommen, um das Ritual zu tanzen, und dann wieder in ihren Alltag verschwinden. Wenn man nur genau hinhört, ist der Tango nicht nur Rhythmus und Melodie – er erzählt auch eine Geschichte, und wie jede Geschichte hat auch diese ihren Rhythmus und ihre Melodie. Der Tango ist eine getanzte Erzählung von unerfüllter Leidenschaft, von vergangenem oder erhofftem Glück, von erduldetem oder befürchteten Unglück, eine Geschichte des Lebens, die sich mit dem der Tänzer verschränkt. Und sie tanzen ihre Geschichte mit erhobenem Haupt, mit Stolz und Hingebung. Wir schauten schweigend den Paaren zu, die sich zu dieser Tanda auf das Parkett begeben hatten. „Ich habe dir doch gesagt: Heute Abend geht es um Stil, la elocución.“
(...)
Als ich die Augen wieder öffnete, hatte ich immer noch die Hände in die Bettkante gekrallt, aus Angst, ich könnte hinunterstürzen, und ich schaute auf den Bettvorleger aus gebrochenem Weiß und die Pfütze aus erbrochenem Rosa. Vom Standpunkt des Künstlers ein inspirierender Anblick, wenn das Alphorn in meinem Kopf nur nicht so gedröhnt und es in meinem Zimmer nicht so überwältigend gestunken hätte. Ich wankte zum Badezimmer, um mich selbst und den Bettvorleger in unseren jeweiligen Originalzustand zu versetzen, was mir beim Bettvorleger ganz gut gelang.
„Kaffee, schwarz, mit Zitrone“, erklärte Rosalía, als sie mir die Tasse in die Hand drückte, und ich war gerührt von so viel Fürsorge. Den Vormittag verbrachte ich im Dämmer der Bibliothek, las etwa ein Dutzend Mal den ersten Absatz von Schillers Über Anmut und Würde, schlief kurz ein, den Kopf auf einen Stapel der unvollständigen Jahrgänge 1953/54 von Le Monde Diplomatique gebettet, und wachte erfrischt auf, als ich Stimmen in der Eingangshalle hörte.
(...)
Bevor ich mit meinen Überlegungen zu einem Ende gekommen war, hatte der Hund seine Entscheidung getroffen: Er hörte auf zu bellen und zu knurren, wandte sich halbwegs ab, hob das linke Hinterbein und pinkelte dem Mann ans Bein. Dann sauste er davon, als sei er sich seines schändlichen Verhaltens bewusst und wollte so schnell wie möglich so viel Raum wie möglich zwischen uns und sich selbst schaffen. Nach einer Weile begriff ich, dass er keineswegs die Richtung einschlug, die ich geplant hatte, sondern nach links abbog, wo er bald den Park verlassen und in den nicht unbeträchtlichen Verkehr eines Viertels einbiegen würde, das mir völlig unbekannt war und von dem ich nur wusste, dass es Belvedere hieß.
In diesem Augenblick höchster Not fiel mir zum Glück das Diktum des Hundebesitzers ein: „Du musst nur seinen Namen flüstern und er kommt zu dir zurück.“ Ich öffnete den Mund, doch der Name fiel mir nicht mehr ein. Ich hatte ihn dutzende Male gehört in den vergangenen Wochen, aber jetzt war er einfach weg, wie ausgelöscht. Mir blieb nichts anderes übrig, als erst einmal hinter ihm herzulaufen, zu hasten, zu rennen, bis mir einfallen würde, wie dieser Teufel auf vier Pfoten hieß.
(...)
„Wo ist Gotthold?“ fragten die Zwei wie aus einem Mund, und mein aufrichtig ängstliches „Ist er noch nicht zurück?“ begleiteten meine beiden Mitspieler mit einem argwöhnisch erschrockenen: „Was hast du mit ihm gemacht?“
„Er ist mir abgehauen“, gestand ich kleinlaut.
„Und du hast ihn nicht zurückgerufen?“ Amerigo kratzte sich mit dem Schraubenzieher hinterrücks zwischen den Schulterblättern.
„Ich hatte seinen Namen vergessen, und als er mir wieder einfiel, da war er schon in den Bus eingestiegen.“
„In den Bus eingestiegen?“ Und noch einmal, eine Oktave höher: „In den Bus eingestiegen?“ Rosalía stellte die Schüssel auf der Kommode ab, zwischen einer Jugendstilvase und der gerahmten Fotografie eines Herrn in Uniform, etwas, was sie wahrscheinlich in den vergangenen dreißig Jahren noch nie gemacht hatte und von dem sie es sich in Träumen von wüstesten Ausschweifungen nicht hatte vorstellen können, dass sie es jemals machen würde. „In welchen Bus?“
„Keine Ahnung. Aber er wird schon wieder auftauchen.“
Niemand widersprach, doch Rosalía wischte die Hände an ihre Schürze und kam bedrohlich nah auf mich zu. „An Ihrer Stelle, Señor Laurens, würde ich sehen, dass ich so viele Kilometer wie möglich zwischen mich und den Herr Doktor bringe.“ Und noch eindringlicher: „Und am besten noch zwei Meere, das sollte genügen.“
„Mann, Lorenzo“, sagte Amerigo fast vergnügt, „ich glaube, du bist tot!“
(...)
„Buenas noches“ sagte ich, nachdem das Lied geendet hatte. Er nuschelte eine Begrüßung, senkte seinen Kopf, so dass der breitkrempige schwarze Hut sein Gesicht vollständig beschattete, und beschäftigte sich wieder mit seinem Zigarillo und dem Streichholz, das im Nachtwind nicht zünden wollte. „Ihre Enkelkinder machen sehr schöne Musik“, lobte ich, um irgendetwas zu sagen.
Es dauerte eine ganze Weile, der Zigarillo glomm inzwischen und verbreitete seinen süßlichen Rauch, da antwortete der Alte. „Sie sind meine Kinder, Nayara, meine Tochter, und Aníbal, mein Sohn.“ Die beiden deuteten ein Kopfnicken an, als ihre Namen fielen, und Aníbal klemmte sich wieder die Geige unters Kinn, um eine weitere Melodie zu spielen. Er war genauso blass wie seine Schwester, oder doch eher, wie soll ich das bezeichnen – grau? „Sehr schön, die beiden machen das sehr gut.“ Meine Komplimente lösten nicht freudigen Stolz aus, mehr als ein Knurren war dem Mann nicht zu entlocken. „Machen Sie das öfter, ich meine, hier auf dem Friedhof Musik, kleine Ständchen für die Toten?“ Ich lachte unsicher.
„Wir sind immer hier.“ Ich ließ das mal so stehen, denn ich merkte, dass da noch etwas nachkommen wollte. Und ich hatte Recht, denn nach einer langen Pause, der Junge hatte inzwischen seine Melodie beendet und sich einen Schluck Mate aus einer Kalebasse gegönnt, sagte der Mann: „Wir sind immer hier, weil wir hier wohnen.“
„In Piñera?“
„Ja, auf dem Friedhof von Piñera.“
(...)
Ich hatte mir den ganzen Weg bis hierher zurechtgelegt, wie ich mich vorstellen und wie ich meinen Auftrag erklären wollte, aber jetzt geriet ich ins Stottern. Eigentlich drängte mich alles danach, um ein trockenes und warmes Plätzchen, ein Stück Brot und eine Tasse Kaffee zu bitten. Das Hausmädchen schaute schon ungeduldig, da brachte ich es doch noch heraus: „Ich möchte bitte zu Greta, Greta Machado, also Gschöpfli – nein, wie dumm von mir, natürlich Greta Rivera, Entschuldigung. Also zu Greta Rivera möchte ich, ich komme von ihrer Mutter und bringe Grüße und habe außerdem eine ...“.
Das Hausmädchen unterbrach meinen unsortierten Redefluss. „Der gnädige Herr ist nicht zu Hause.“
„Ich möchte ja auch nicht zu Señor Rivera, ich möchte zur Señora, ich komme von ihrer Mutter.“
„Aber der gnädige Herr ist nicht zu Hause“, wiederholte die Zerbera und wollte schon die Tür schließen. Da machte ich etwas, was ich so oft im Kino gesehen hatte und schon immer mal selbst machen wollte: Ich stellte den Fuß in die Tür. Da es sich dabei aber um ein Estancia-Portal aus massiver Eiche und keine Klappertür in einer Absteige in Chicago handelte, war die Aktion schmerzhafter als meine Kinoerfahrung hatte erwarten lassen. Doch mein grimmiger Gesichtsausdruck und der unflätige Ausruf, den ich nicht hatte unterdrücken können, verschaffte mir schließlich den gewünschten Eintritt.
(...)
Jetzt nahm Don Alfonsos Wut wieder Fahrt auf. „Ich bring dich um!“, brüllte er mich an, mit hochrotem Kopf, Speicheltropfen im schwarzen Schnauzbart, Schweißtropfen auf der Stirn. Sollte ich das wirklich ernst nehmen? Wie oft hat mir schon mal jemand angedroht, dass er mich umbringt, und ich lebe noch immer. Pah! Doch langsam schlich sich die Erkenntnis in meinen Kopf, dass ich auch nie zuvor im Haus eines südamerikanischen Gutsherrn vom selbigen mit seiner jungen schönen Gattin in einer undurchsichtigen Situation erwischt wurde. Ich schaute zu Greta hinüber, die in einer Ecke kauerte, ihre Blöße mit dem Tischtuch bedeckte und Rotz und Wasser heulte in Erwartung dessen, was der Herr mit ihr anzustellen beliebte, wenn er mit mir fertig sein würde, es juckte ihn schon in der Hand und im Schritt. Endlich, endlich, so sprach seine Miene, endlich kann ich tun, was ein Mann tun muss.
(...)
Man sollte sich eine Überquerung des Atlantiks mit einem Heißluftballon nicht allzu kurzweilig, gar aufregend, am Ende noch abenteuerlich vorstellen! Es passiert nicht wirklich viel in einem Korb aus Binsen und Maisstroh, man kann sich noch nicht einmal am Vorbeifliegen irgendeiner Landschaft delektieren, es kommt keiner vorbei, der Laugenbrezel, Kaffee und Cola aus seinem Trolley anbietet, das Bordprogramm ist so aufregend wie die Nulllinie der Herzfunktion nach dem Exitus, und von so weit oben kann man noch nicht einmal Wale und Delfine sehen. Es geschieht auch nichts Dramatisches, vielleicht so etwas wie: das Essen geht aus, und nach drei Tagen entschließt man sich, die Flamme des Brenners abzudrehen und so den Ballon knapp über den Wellen dahinsegeln zu lassen, während man Fliegende Fische fängt, um dann – der Brenner springt in allerletzter Sekunde, kurz vor dem Aufsetzen auf dem Wasser, doch noch an und bläst die Ballonhülle wieder auf – erneut Höhe zu gewinnen. Schnitt, nächste Szene: die Fliegenden Fische werden über der Brennerflamme gebraten und retten nicht nur das Leben des Helden, sondern sind das köstlichste Mahl, das er jemals und so weiter und so fort.
Nichts von all dem.
(...)
Erst die gute oder erst die schlechte Nachricht?
Dort unten war tatsächlich Land aufgetaucht, dem sich der Ballon nun näherte, aus zahlreichen skurril geformten Fjorden stiegen Felsen auf, die sich hinter der Küste zu einem veritablen Hochgebirge auftürmten. Außer einem schmalen Streifen direkt entlang des Wassers und mit zunehmender Höhe war das Land mit Eis und Schnee bedeckt, einzelne Schollen trieben auch im Meer. An einer der Buchten konnte ich Häuser erkennen, zwei Schiffe lagen im Fjord. Ich hielt den Atem an, dass doch bloß nicht der Wind drehen und mich aufs Meer zurücktreiben möge. Doch ich segelte direkt auf diesen Flecken zu durch schneidend kalte Luft, in die sich nach und nach immer mehr Schneeflocken mischten, milchiges Licht tauchte die Landschaft in eine beklemmende Trübnis. Wo war jetzt eigentlich noch mal die gute Nachricht?
Egal, ich musste da runter, am besten hinter dem mit Eisschollen gespickten Meer und noch vor den Gletschern und Schneefeldern der Berge.
(...)
Die Tage wurden umso länger, je näher wir dem Äquator kamen, es wurde heiß, die Nächte an Deck waren warm, dann wurde es wieder kühler, die See rauer, die Essensportionen größer, da ein Ende der Vorratshaltung abzusehen war, und dann, ja dann ... „Morgen ist es soweit“, kündigte Grit an, und man konnte meinen, sie freute sich wirklich.
„Du freust dich auch auf Zuhause?“
„Jeder freut sich auf Zuhause. Ich war ein halbes Jahr unterwegs, und mein Mann ...“ Sie errötete ein ganz klein wenig. „Schluss jetzt!“, befahl sie, aber ich hatte doch gar nichts gesagt, ich hatte sie nur angeschaut, wie ich immer schaue, wenn man mir nicht ausreichend Zeit gegeben hat, mich aufs Ausschauen vorzubereiten: ein bisschen naiv, ein wenig überrascht, ziemlich hilflos. „Deinen Rucksack und den ganzen Krimskrams behalte ich noch, bis du sicher festen Boden unter den Füßen hast. Wir müssen sehen, dass wir dich unbeschadet wieder von Bord kriegen.“
(…)
Was sollte ich jetzt dem Kommissar sagen? „Ich weiß nicht, wovon Sie reden, ich habe nichts getan“, war in etwa der Kern meiner Aussage. Aber damit gaben sie sich nicht zufrieden. Ich musste wieder und wieder erzählen, wie wir nächtens das Haus verlassen hatten, ich Alex auf ihrem Rollstuhl in den Dschungel geschoben hatte, wir zum Fluss gekommen und dort in das Boot gestiegen waren, uns den Fluss hatten hinuntertreiben lassen.
„Und jetzt soll ich Ihnen glauben, dass diese schmächtige, von der Hüfte an gelähmte junge Frau sich aus eigener Kraft am Dollbord hochgezogen hat, sich hat ins Wasser fallen lassen, zum Ufer geschwommen ist und – ja, was gemacht hat? Per Anhalter nach Montevideo gefahren ist?“
„Wie kommen Sie auf Montevideo?“, fragte ich alarmiert.
„Warum fragen Sie? Klingelt da was? War da was mit Montevideo? Oder mit Rio? Oder Bahia?“
Das Beste war, ich schwieg zu all dem, es war zu absurd. Und zugegeben: Ich konnte nichts erklären, wo doch Alexandras Verschwinden aus dem Boot mir selbst immer noch ein Rätsel war.
(…)
Nachdem ich diesen langen Brief mit der Lebensbeichte meiner Mutter gelesen hatte, war die Welt für mich eine andere. Ich empfand nur noch Abscheu für meinen Großvater, der zuvor für mich das Maß aller Dinge gewesen war. Wie hatte ich mich auf die Reise durch Amerika gefreut, wie hatte ich es genossen, mit ihm zusammen zu sein, seinen Geschichten zu lauschen, von denen ich ahnte, dass sie nicht alle die reine Wahrheit boten, aber sei’s drum: Warum sollte ich nicht sein wollen wie er? Jetzt aber konnte ich ihn nur noch verachten. Ich war wütend, und endlich hatte ich jemanden, dem ich die Schuld an meinem Unglück geben konnte: Wäre Hans nicht gewesen, und hätte er, der alte Großkotz und Hab-ich-doch-die-dicksten-Eier-in-der-Hose und Was-soll-schon-groß-passieren sich nicht kopp­hei­ster über der Wüste aus Ozzy Monteros Piper fallen lassen, dann wäre alles andere nicht passiert – Guayana und Alex, Montevideo und die Riveras und der Ballon und die Antarktis. Nachdem ich durch die halbe Welt gereist bin, bleiben mir diese zwölf Quadratmeter, umschlossen von grauen Wänden, Stumpfsinn und Bosheit.
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