Ein Opfer geopolitischer Verwerfungen
»Im Trinken bin ich Autodidakt. So heißt das doch, wenn man sich was selbst beigebracht hat? Genau, Autodidakt.«
Er trank sein Glas aus und zog das volle, das schon bereitstand, zu sich heran. Über silberne Löffel konnte man nicht mit ihm reden, schon gar nicht über Bargeld. Aber über das Auto, so hoffte ich.
»Das muss auf dem scheiß Parkdeck vor dem scheiß Amt passiert sein. Ich war es jedenfalls nicht.« Er nahm einen kräftigen Schluck.
Heute Abend würde ich doch nicht mehr mit ihm darüber reden können. Vielleicht morgen, morgen bestimmt. Und wir würden überhaupt nicht darüber reden müssen, wenn es sein Auto gewesen wäre, aber das war es nun einmal nicht. Ich seufzte; was war schon seins?
»Ich hatte nie einen, der mir gezeigt hat, wie was geht. Habe ich mir alles selbst beigebracht.« Ich kannte das schon, jetzt beglückwünschte er sich zu seinem Durchblick, wie er das nannte. »Autofahren, Geldmachen, Frauenbeglücken – hat mir keiner zeigen müssen. Und Trinken, da bin ich auch Autodidakt.«
Man hätte zurecht einwenden können, dass er von all den Dingen alleine das mit dem Trinken gut hinbekam. Ich wollte gar nicht wissen, wie das Auto aussah, seine Fingerknöchel jedenfalls waren blau und geschwollen, die Flasche, die er sich der Einfachheit halber inzwischen bestellt hatte, musste er mit beiden Händen anheben, um sich noch etwas einzugießen. Quer über die Stirn klaffte eine Wunde, aus der es nachlässig blutete, aber nicht dass es ihn störte oder gar beunruhigte. Er roch nach Schweiß.
»Jeder sollte sich alles selbst beibringen, was er im Leben braucht; dann weiß er auch, auf was er sich verlassen kann. Oder sie, natürlich auch sie soll das, nicht nur er.« Das Letzte sagte er ausdrücklich an mich gerichtet, wo er sich doch bei meiner Diplomfeier mit der Urkunde den Hintern abgewischt und alles im Klo runtergespült hatte. Ein Riesenspaß, aber den Ärger hatte ich.
»Täubchen, guck nicht so, alles gut.« Er lachte kurz auf, pflichtschuldigst, und unterdrückte mit Mühe den Schmerz, als er seinen Arm um mich legte; ich sah den Schmerz in seinen Augen und ich ließ ihn gewähren. Schmerz, das war mir klar, war sein zweiter Vorname.
»He, Freundchen, Finger weg!« Der Gast am anderen Ende der Theke, der sich mit der einen Hand am Bierglas festhielt und die andere zwischen die Beine klemmte, hatte uns die ganze Zeit trübsinnig beobachtet, und ich hätte darauf wetten können, dass seine Stunde noch käme. Es waren wohl meine nackten Schultern und Maxims harte Aussprache, die nach Taiga klang, die ihn erregten. Er wollte ganz offensichtlich Ärger, wenn schon sonst nichts los war heute Abend. »Ein Volk, das einen kleinen Hund in den Weltraum schießt und ihn dort verrecken lässt, das frisst auch kleine Kinder!«
Wir sahen uns an und mussten an uns halten, um nicht laut zu lachen. Wir wussten es ja besser. Maxim gab mir einen Kuss auf die Stirn und sagte über den Tresen hinweg: »Wenn sich jemand beschweren dürfte, dann bin ich das, denn das war
mein Hund.« Er sagte: beschwärren und Chund, und ich bekam Zwerchfellkrämpfe. Wir sahen uns an und mussten an uns halten, um
Der Andere starrte ihn wortlos an, trank sein leeres Glas aus Verlegenheit noch einmal leer und wischte mit dem Unterarm Kondenswassertropfen von der Theke.
»Ich war der Urologe von Chruschtschow und er wollte mir und meiner Frau Olga eine Ehre antun.« Maxim redete wie der Russe in einem B-Movie, er übertrieb es sogar noch und ließ sich nicht zurückhalten. »Ja, Laika, guter Hund.« Guterr Chund.
Ich war heilfroh, dass er es bei Worten bewenden ließ und nicht aufstand, seine Armbanduhr demonstrativ auf den Tresen legte und die Ärmel aufkrempelte. Das Prügeln hatte er sich auch selbst beigebracht. »Was sagen Sie, wenn ich Ihnen verrate, dass ich zwei Jahre lang der Boxtrainer von Wladi war?« Er machte eine wohlbemessene Pause, und man konnte dem Anderen beim Denken zusehen. »Wladimir Wladimirowitsch Putin – klingelt da was?« Maxim hatte die Worte ausgespuckt, scharf wie Schnellfeuerpatronen.
Ich legte die Hand auf seinen Arm und sagte: »Dostátetschna!«
Er schüttelte meine Hand ab wie eine lästige Mücke und schnauzte mich an: »Genug? Was weißt du schon von genug. Entweder habe ich Durst oder ich bin besoffen.« Dann nahm er die Flasche, rutschte vom Barhocker und ging zum anderen Ende des Tresens, wo diese Frau saß, der die Weltgeschichte offensichtlich egal war, warum auch nicht. Sie streckte ihm schon ihr leeres Glas und ihre vollen Brüste entgegen, und Maxim sagte zu niemandem bestimmten: »Im Moment bin ich noch durstig.«
Mir egal. Ich bin ja glücklicherweise nicht seine Frau, sondern nur seine Enkeltochter. Ich könnte ein paar Minuten warten, vielleicht gerade bis zu dem Augenblick, da er zum ersten Mal Hand an ihre Brüste legte oder sich an sie drängte, um hinüberzuschlendern und mich neben die beiden zu stellen. »Na, Opa, wollen wir gehen, du musst deine Tabletten nehmen«, so etwas in der Art könnte ich sagen und dann schauen, was passiert. Es passiert nämlich jedes Mal etwas anderes, da hatten wir schon alles, vom heulenden Elend bis zum blauen Auge, je nachdem, wo wir uns befanden zwischen Durst und Trunkenheit.
Er hat das alles halt immer noch nicht verwunden, sagt er. Ab und zu putzt er seine Orden blank, dann darf man nicht in seine Nähe kommen. »Ihr habt ja keine Ahnung, was ihr angerichtet habt«, immer zwei-, dreimal hintereinander über die Schulter, während er die Medaille Für den Bau der Baikal-Amur-Magistrale liebevoll betrachtet. Dabei vergisst er, dass ich damals in die Elementarschule Nr. 18 in Schelesnodoroschnyj ging und wenig Einfluss auf Gorbatschow hatte. Welchen Einfluss mein Großvater auf den Bau der Baikal-Amur-Magistrale hatte, ist mir gerade entfallen. Jetzt jedenfalls versuchte er, verblassten Ruhm aufzupolieren, indem er der Dame etwas vorsang, Wange an Wange tanzten die beiden, und er hatte seinen Mund direkt an ihre Ohrmuschel gestöpselt. Als sie bei mir vorbeischlurften, erkannte ich die Melodie:
Ausgerechnet Murka, die Geschichte eines Gaunerkönigs, der sich in Odessa in eine Agentin der Geheimpolizei verliebt. Lange her. Er hatte die Augen geschlossen und ihre strahlten.
»Was ist jetzt mit dem Auto?«, fragte ich ihn, als wir endlich nach Hause schlenderten.
»Mit welchem Auto?« Er schlingerte und ich versuchte, ihn zu halten. Ich hatte auch schon meine drei, vier intus, das blieb doch gar nicht aus, aber ich wusste noch, wo wir wohnen. Vor der Haustür inspizierte ich ihn, doch sein Hemd war ohne Fleck, der Reißverschluss zu und sein Gesicht diesmal ohne Wunde, wenn man von der Hinterlassenschaft des Park-platzunfalls absah. Er beugte sich zu mir herunter, »Golubtschik«, säuselte er, »du bist doch mein Täubchen, oder?« Dann küsste er mich überschwänglich auf den Mund. Wie ich das hasse.
Warum tut er bloß immer so, als sei er ein Opfer geopolitischer Verwerfungen? Irgendetwas mit seiner Seele, behauptet er, Säle, klar, muss aber auch etwas mit seinem Ego zu tun haben, das er vor langer Zeit in einer Flasche Zarskaja versenkt hat, und mit seiner Freude am Theater, auch wenn’s weh tut. Jetzt wird es allerdings Zeit, dass er mich da raushält, von wegen Natascha, von wegen Schelesnodoroschnyj, ich habe die Nase voll – Schluss damit!
Aber, Herrjeh, Max, mein Opa aus Duisburg, wie ich ihn liebe, den alten Schuft.
Das nächste Gedicht
Gruß an Friedrich Hölderlin
Wenn ich mal wieder ein Gedicht schreibe,
wird es von erbarmender Vergessenheit handeln,
von heiligen Empfindungen,
und vom Entzücken,
von seligem Lächeln auch.
Ich werde Wörter verwenden wie:
Zornestrunken,
Gewölke,
Fittiche,
Erdenglück,
gegebenenfalls auch:
stiller Segen.
Ich kann auch reimen.
Silben, die keimen,
die sprossen und blühen
und sanft erglühen.
Ich werde singen
vom abgeschiedenen Freunde,
vom Zürnen und
von ahnenden Häuptern
und herzergossnen Tränen.
Eine Ode werde ich schreiben
Oder vielleicht Terzinen,
alkäische Strophen,
Alexandriner.
Auf jeden Fall, sag‘ ich euch,
seid gefasst:
Trunken dämmert die Seele mir!