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In meiner Lese-Ecke


Kurzgeschichten, Gedichte, Aphorismen und was mir sonst noch so einfällt

Wenn sich mit einem beiläufigen, zurückhaltend metallischem Klang das Chaos ins Leben drängt. Die Tür fällt ins Schloss, der Riegel schnappt ein, sperrt zu, sperrt mich aus. Im Bruchteil einer Sekunde. Vorher, nachher. Mein Heim da drinnen, mein Leben hier draußen. Ich taste mich hinter der Forsythie hindurch, über den Kellerrost hinweg. Ich tappe

Die Dinge des Lebens

Der Schlüssel

weiter, um die Hausecke bis zum Fenster. Auf dem Tisch steht noch die Tasse mit dem Kaffee, zur Hälfte geleert. Es ist noch kühl, der Kaffee, wenn auch nur noch lauwarm, täte jetzt gut. Von hier draußen sieht
das so gemütlich aus: Ach, hab ich’s schön! Da drinnen. Auf dem Sideboard die Schlüssel, drei im Bunde: Haustür, Garage, Briefkasten. Ich möchte einen Wunsch frei haben. Ich möchte durch Wände gehen können. Ich möchte einfach dieses kleine Stück Metall in meiner Hand spüren. Bitte!
Wenn es geregnet hat, und dann hört es wieder auf und es scheint die Sonne, dann fahren die Regenschirme alleine weiter im Stadtbus, oder sie lehnen – nass und verknittert – an den Pulten der Stehcafés. Rührender aber ist der Handschuh, den ein mitleidvoller Passant aus dem Straßenschmutz hebt und auf den Vorgartenzaun steckt. Und wer

Die Dinge des Lebens

Der Handschuh


vorbeigeht, der greift in die Manteltasche, ob es wohl nicht der eigne sei. Mit der Zeit bekommt der Handschuh dunkle Streifen über den Rücken, das
waren Regen und Schnee. Wer ihn so wiederfände, der schaute schnell weg und ließe ihn stecken, derweil sein Zwilling immer tiefer sinkt in der Kommode. Dann kommt einer vorbei, der dreht sich doch noch einmal um. So einen, denkt er im Weitergehen, (wie seltsam:) genau so einen habe ich auch einmal verloren.
Sie wollte sie unbedingt. Vielfarbige unförmige Flächen und Linien, wie zufällig hingespritzt auf die Wand, die einmal so schön weiß war, rein und unbefleckt. Ihre Heimtücke und boshafte Energie habe ich der Tapete gleich angesehen. Sie war verdammt schwer zu verlegen wegen der Anschlüsse,

Die Dinge des Lebens

Die Tapete

ich musste manchmal einen halben Meter abschneiden, weil sonst die nächste Bahn nicht gepasst hätte. Und anschließend war ich fast
blind von den wirren Farben und Formen. Wir haben sie im Schlafzimmer angebracht. Ich mache das Licht aus und schließe die Augen. Dann wiederhole ich im Stillen das Gedicht, das ich für sie auf die Wand geschrieben habe noch vor der ersten Bahn.
Die Stühle um den Esszimmertisch haben etwas vor, ich spüre es seit Tagen. Ich komme nach Hause, da schweigen sie, stehen im Kreis um den Tisch und schauen mich blöde an, heimlichtuerisch. Eben haben sie noch über mich hergezogen, doch kaum hören sie den Schlüssel im Türschloss, sind sie still, blicken verlegen von einem zum anderen, stehen einfach nur

Die Dinge des Lebens

Die Stühle


da. Wenn ich mich auf einen von ihnen setze, gibt er den anderen Zeichen, hinter meinem Rücken. Doch ich lasse mich nicht hintergehen, nicht von sechs
Esszimmerstühlen. Ich habe ein Auge auf sie, und solange der Tisch sich nicht hineinziehen lässt (er ist aus anderem Holz gemacht, ein einfacher Kerl, der mit allen Beinen fest im Alltag steht), können die Stühle nichts ausrichten. Ich habe den Sessel aus dem Wohnzimmer herangezogen. Da sitze ich nun und beobachte, was geschehen wird.

Mit Gott im Bistro

Gott hatte diesmal den Nachtzug genommen. Vielleicht, weil er sich an die Geschichte erinnert hatte, die sein Sohn so spannend erzählen konnte, die mit den Jungfrauen, den Öllampen und dem Dieb in der Nacht. Vielleicht aber auch nur, weil er nicht früher weggekommen war. Billiger war das Nacht-Ticket jedenfalls nicht. Jetzt war er dummerweise eine Station zu früh ausgestiegen, im Osten ließ er gerade die Sonne aufgehen und sah zu, wie auf dem Bahnhofsvorplatz die Kehrmaschine der Stadtreinigung kreiste. Er hatte zur Bischofskonferenz gewollt, mal wieder über den Häuptern schweben, vielleicht sogar das mit den Feuerzungen machen, einen Versuch wäre es wert gewesen. Doch jetzt: Kleinstadt am Rande der Rhön.
Hinter ihm zog Serap die Jalousie hoch und ihr Mann trug den Aufsteller nach draußen: Pott Kafee und Crossang 3,80. Döner auch veget. Serap’s Bistro stand über der Tür, die sie mit einem Keil festklemmte, damit sie offenhielt. Der nächste Zug fuhr erst sieben Uhr zwanzig, und Kaffee mit Croissant klang gut, also betrat Gott das Bahnhofs-Bistro.
»Kann ich schon?« Er zeigte unbestimmt auf die Tafel mit den Speisen und Getränken an der Wand hinter der Theke.
»Na klar«, antwortete Serap und ließ einmal Dampf durch die Düsen der Kaffeemaschine strömen.
»Ich nehme das Angebot, also …«, der HErr drehte sich unbeholfen um und zeigte auf den Aufsteller vor der Tür.
»Geht klar! Nehm Platz, ich bring dir.«
Gott stellte sich an einen der Bistrotische; er hatte schließlich lange genug gesessen. Ezel, Seraps Mann, brachte das Frühstück, »Ezel«, sagte er, als er das Tablett abstellte, »ich bin Seraps Mann«. Jetzt verstand Gott auch, warum sie den Laden nach ihr und nicht nach ihm benannt hatten. Sein Blick fiel auf ein Schild am anderen Ende des Raumes. »Serap’s Bistro: immer gut, ist so!« Laut und mit Rhythmus gesprochen, klang es wie ein Rap. Er deutete dorthin und sagte mit vollem Mund: »Guter Spruch.« Nur um irgendetwas zu sagen. Er selbst hätte freilich Buch der Sprüche 27,2 bevorzugt: »Lass dich von einem andern loben und nicht von deinem Mund«, und so weiter, aber das ist halt Marketing, hielt er den beiden zugute.
Ezel war unschlüssig am Tisch stehen geblieben und versuchte, ein Gespräch mit dem frühen Gast anzufangen. »Bist nicht von hier«, stellte er fest, und da der HErr bestätigte, »ich komme von … von weiter her«, da fügte Ezel hinzu: »Hab dich nämlich noch nie hier gesehen.« Gott wusste nicht recht, was er darauf sagen sollte, außerdem war da ja das Croissant,


aber das machte nichts, denn Ezel führte das Gespräch selbst fort. »Ich kann echt gut Gesichter und so.«
»Das ist bestimmt sehr vorteilhaft in deinem Beruf«, pflichtete ihm Gott bei. Ezel klopfte auf den Tisch zum Zeichen, dass er sich jetzt anderen Dingen zuwenden müsse, und schlenderte zur Theke, um die Servietten von links nach rechts zu legen und die Box mit den Zuckertütchen aufzufüllen. Aber immer wieder schaute er zu seinem Gast hinüber, lächelte unsicher, wenn der ihn beim Beobachten ertappte, schlich von hier nach dort, bis er sich schließlich ein Herz fasste und wieder an den Tisch trat.
»Ich kenn dich aber trotzdem irgendwoher.« Er zwinkerte Gott zu und tippte ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Brust. »Aah, jaa, vielleicht Instagram? Du bist so’n Influenza glaub ich, oder?«
Der HErr leckte eine Fingerspitze an und stippte die Blätterteigkrümel auf dem Teller auf. »Influencer?« fragte er, aber natürlich wusste er, was es damit auf sich hatte.
»He«, rief Ezel aus, »ich hab’s gleich: Modellautos, hä? Oder vegan Grillen? Jedenfalls nix mit Sport!« Er tänzelte vor Gott hin und her, der nicht wusste, was er darauf sagen sollte. Klar, er hatte sich den Bart gestutzt und die Haare im Nacken zusammen-gebunden und fand, dass er – bei aller Bescheidenheit – attraktiv aussah: ein älterer, aber agiler Herr, der etwas auf sich hielt.
Serap kam aus der Kammer hinter dem Laden und ermahnte ihren Mann: »He, Ezel, is gut jetz. Haste nix zu tun?«
»Ey, Serap«, gab Ezel aufgekratzt zurück, »kennste den? He, woher kenn ich den?«
»Mann, sen deli misin? Du kannst so nicht mit einem Gast reden!« Dann kam sie aber doch näher und betrachtete sich den HErrn, der seinen letzten Schluck Kaffee getrunken hatte und sich den Mund mit der Serviette abwischte. »Also«, fing sie langsam an zu sprechen, »also, wir dürfen ja keine Bilder machen von IHM, Mashallah, aber ich war in einer Kirche, weißt du, Ezel, bei der Hochzeit von Kerstin. Und da gab’s doch ein Bild von dem katholischen Gott, der sieht dir verda…, sehr ähnlich.«
»Das wird mein Sohn gewesen sein«, entfuhr es Gott.
»Ein Bild von deinem Sohn, so richtig fett an der Wand von dieser Kirche?« Seraps Stimme überschlug sich.
»Das mit dem Sohn dürft ihr nicht wörtlich



nehmen«, beeilte sich Gott seine Aussage zu relativieren. Damit fuhr er ja schon seit zweitausend Jahren ganz gut. »Mein Sohn – das ist mehr eine Metapher …«
»Also hast du gar keinen Sohn?«
»Doch schon, aber …« Er schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich und mein Sohn …«
»Mein Sohn und ich«, verbesserte ihn Ezel mit erhobenem Zeigefinger. Der HErr seufzte. »Ja, klar, mein Sohn und ich, das ist eine ganz spezielle Beziehung.«
»Ah, geh fort, das kenn ich«, antwortete Serap verständnisvoll. Sie stieß ihren Mann in die Seite: »Weißt du, Ezel, die Güngörs und ihr Bülent.«
»Rahimahum allahu«, rief Ezel aus und nickte.
Am liebsten hätte Gott jetzt irgendetwas Spektakuläres gemacht, um dem Gespräch ein Ende zu setzen und etwas zum Nachdenken zurücklassen. Die Wasser der Fulda teilen? Aus der brennenden Ligusterhecke am Parkplatz zu ihnen sprechen? Frösche vom Himmel regnen lassen? Dann dachte er: Was soll’s, war es nicht ganz o.k. so, wie es war? Hatte er es sich nicht schon lange abgewöhnt, sich immer wieder so von oben herab einzumischen? Er kannte das Dilemma nur zu gut: Die einen sagten: HErr, hilf! und die anderen: Du kannst mir gar nichts! – dabei wussten die Menschen doch selbst: Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.
Er stand von seinem Bistrohocker auf und fragte Ezel leise: »Wo habt ihr denn euer …?«
»Das Klo ist da hinten links«, sagte der, »aber nachher wieder Licht aus, nä!«
Als er zurückkam, waren drei Tische belegt; es musste ein Regionalzug angekommen sein. Er ging zu seinem Platz zurück, legte fünf Euro neben den Teller, sprach einen Segen darüber und verschwand unbemerkt. Seinen Zug könnte er gerade noch erwischen, aber auf die Bischofskonferenz hatte er eigentlich gar keine Lust mehr. Dann müsste er auch noch den Heiligen Geist in die Sache reinziehen, und ob es wirklich etwas nützen würde? Er stellte sich die Herrschaften in ihren Talaren vor und schüttelte den Kopf.
Auf dem Gegengleis stand der Zug nach Hause zur Abfahrt bereit, wenn auch in umgekehrter Wagenreihung. Das war halt so ein gebrauchter Tag, dachte er seufzend, aber morgen war ja Sonntag, der Tag, an dem er von Beginn an schon immer ruhte.
Und dann fiel ihm noch ein, dass er das Licht nicht ausgemacht hatte.


Ein Opfer geopolitischer Verwerfungen

 
»Im Trinken bin ich Autodidakt. So heißt das doch, wenn man sich was selbst beigebracht hat? Genau, Autodidakt.«
Er trank sein Glas aus und zog das volle, das schon bereitstand, zu sich heran. Über silberne Löffel konnte man nicht mit ihm reden, schon gar nicht über Bargeld. Aber über das Auto, so hoffte ich.
»Das muss auf dem scheiß Parkdeck vor dem scheiß Amt passiert sein. Ich war es jedenfalls nicht.« Er nahm einen kräftigen Schluck.
Heute Abend würde ich doch nicht mehr mit ihm darüber reden können. Vielleicht morgen, morgen bestimmt. Und wir würden überhaupt nicht darüber reden müssen, wenn es sein Auto gewesen wäre, aber das war es nun einmal nicht. Ich seufzte; was war schon seins?
»Ich hatte nie einen, der mir gezeigt hat, wie was geht. Habe ich mir alles selbst beigebracht.« Ich kannte das schon, jetzt beglückwünschte er sich zu seinem Durchblick, wie er das nannte. »Autofahren, Geldmachen, Frauenbeglücken – hat mir keiner zeigen müssen. Und Trinken, da bin ich auch Autodidakt.«
Man hätte zurecht einwenden können, dass er von all den Dingen alleine das mit dem Trinken gut hinbekam. Ich wollte gar nicht wissen, wie das Auto aussah, seine Fingerknöchel jedenfalls waren blau und geschwollen, die Flasche, die er sich der Einfachheit halber inzwischen bestellt hatte, musste er mit beiden Händen anheben, um sich noch etwas einzugießen. Quer über die Stirn klaffte eine Wunde, aus der es nachlässig blutete, aber nicht dass es ihn störte oder gar beunruhigte. Er roch nach Schweiß.
»Jeder sollte sich alles selbst beibringen, was er im Leben braucht; dann weiß er auch, auf was er sich verlassen kann. Oder sie, natürlich auch sie soll das, nicht nur er.« Das Letzte sagte er ausdrücklich an mich gerichtet, wo er sich doch bei meiner Diplomfeier mit der Urkunde den Hintern abgewischt und alles im Klo runtergespült hatte. Ein Riesenspaß, aber den Ärger hatte ich.
»Täubchen, guck nicht so, alles gut.« Er lachte kurz auf, pflichtschuldigst, und unterdrückte mit Mühe den Schmerz, als er seinen Arm um mich legte; ich sah den Schmerz in seinen Augen und ich ließ ihn gewähren. Schmerz, das war mir klar, war sein zweiter Vorname.
»He, Freundchen, Finger weg!« Der Gast am anderen Ende der Theke, der sich mit der einen Hand am Bierglas festhielt und die andere zwischen die Beine klemmte, hatte uns die ganze Zeit trübsinnig beobachtet, und ich hätte darauf wetten können, dass seine Stunde noch käme. Es waren wohl meine nackten Schultern und Maxims harte Aussprache, die nach Taiga klang, die ihn erregten. Er wollte ganz offensichtlich Ärger, wenn schon sonst nichts los war heute Abend. »Ein Volk, das einen kleinen Hund in den Weltraum schießt und ihn dort verrecken lässt, das frisst auch kleine Kinder!«
Wir sahen uns an und mussten an uns halten, um nicht laut zu lachen. Wir wussten es ja besser. Maxim gab mir einen Kuss auf die Stirn und sagte über den Tresen hinweg: »Wenn sich jemand beschweren dürfte, dann bin ich das, denn das war
mein Hund.« Er sagte: beschwärren und Chund, und ich bekam Zwerchfellkrämpfe. Wir sahen uns an und mussten an uns halten, um
Der Andere starrte ihn wortlos an, trank sein leeres Glas aus Verlegenheit noch einmal leer und wischte mit dem Unterarm Kondenswassertropfen von der Theke.
»Ich war der Urologe von Chruschtschow und er wollte mir und meiner Frau Olga eine Ehre antun.« Maxim redete wie der Russe in einem B-Movie, er übertrieb es sogar noch und ließ sich nicht zurückhalten. »Ja, Laika, guter Hund.« Guterr Chund.
Ich war heilfroh, dass er es bei Worten bewenden ließ und nicht aufstand, seine Armbanduhr demonstrativ auf den Tresen legte und die Ärmel aufkrempelte. Das Prügeln hatte er sich auch selbst beigebracht. »Was sagen Sie, wenn ich Ihnen verrate, dass ich zwei Jahre lang der Boxtrainer von Wladi war?« Er machte eine wohlbemessene Pause, und man konnte dem Anderen beim Denken zusehen. »Wladimir Wladimirowitsch Putin – klingelt da was?« Maxim hatte die Worte ausgespuckt, scharf wie Schnellfeuerpatronen.
Ich legte die Hand auf seinen Arm und sagte: »Dostátetschna!«
Er schüttelte meine Hand ab wie eine lästige Mücke und schnauzte mich an: »Genug? Was weißt du schon von genug. Entweder habe ich Durst oder ich bin besoffen.« Dann nahm er die Flasche, rutschte vom Barhocker und ging zum anderen Ende des Tresens, wo diese Frau saß, der die Weltgeschichte offensichtlich egal war, warum auch nicht. Sie streckte ihm schon ihr leeres Glas und ihre vollen Brüste entgegen, und Maxim sagte zu niemandem bestimmten: »Im Moment bin ich noch durstig.«
Mir egal. Ich bin ja glücklicherweise nicht seine Frau, sondern nur seine Enkeltochter. Ich könnte ein paar Minuten warten, vielleicht gerade bis zu dem Augenblick, da er zum ersten Mal Hand an ihre Brüste legte oder sich an sie drängte, um hinüberzuschlendern und mich neben die beiden zu stellen. »Na, Opa, wollen wir gehen, du musst deine Tabletten nehmen«, so etwas in der Art könnte ich sagen und dann schauen, was passiert. Es passiert nämlich jedes Mal etwas anderes, da hatten wir schon alles, vom heulenden Elend bis zum blauen Auge, je nachdem, wo wir uns befanden zwischen Durst und Trunkenheit.
Er hat das alles halt immer noch nicht verwunden, sagt er. Ab und zu putzt er seine Orden blank, dann darf man nicht in seine Nähe kommen. »Ihr habt ja keine Ahnung, was ihr angerichtet habt«, immer zwei-, dreimal hintereinander über die Schulter, während er die Medaille Für den Bau der Baikal-Amur-Magistrale liebevoll betrachtet. Dabei vergisst er, dass ich damals in die Elementarschule Nr. 18 in Schelesnodoroschnyj ging und wenig Einfluss auf Gorbatschow hatte. Welchen Einfluss mein Großvater auf den Bau der Baikal-Amur-Magistrale hatte, ist mir gerade entfallen. Jetzt jedenfalls versuchte er, verblassten Ruhm aufzupolieren, indem er der Dame etwas vorsang, Wange an Wange tanzten die beiden, und er hatte seinen Mund direkt an ihre Ohrmuschel gestöpselt. Als sie bei mir vorbeischlurften, erkannte ich die Melodie:
Ausgerechnet Murka, die Geschichte eines Gaunerkönigs, der sich in Odessa in eine Agentin der Geheimpolizei verliebt. Lange her. Er hatte die Augen geschlossen und ihre strahlten.
»Was ist jetzt mit dem Auto?«, fragte ich ihn, als wir endlich nach Hause schlenderten.
»Mit welchem Auto?« Er schlingerte und ich versuchte, ihn zu halten. Ich hatte auch schon meine drei, vier intus, das blieb doch gar nicht aus, aber ich wusste noch, wo wir wohnen. Vor der Haustür inspizierte ich ihn, doch sein Hemd war ohne Fleck, der Reißverschluss zu und sein Gesicht diesmal ohne Wunde, wenn man von der Hinterlassenschaft des Park­-platz­unfalls absah. Er beugte sich zu mir herunter, »Golubtschik«, säuselte er, »du bist doch mein Täubchen, oder?« Dann küsste er mich überschwänglich auf den Mund. Wie ich das hasse.
Warum tut er bloß immer so, als sei er ein Opfer geopolitischer Verwerfungen? Irgendetwas mit seiner Seele, behauptet er, Säle, klar, muss aber auch etwas mit seinem Ego zu tun haben, das er vor langer Zeit in einer Flasche Zarskaja versenkt hat, und mit seiner Freude am Theater, auch wenn’s weh tut. Jetzt wird es allerdings Zeit, dass er mich da raushält, von wegen Natascha, von wegen Schelesnodoroschnyj, ich habe die Nase voll – Schluss damit!
Aber, Herrjeh, Max, mein Opa aus Duisburg, wie ich ihn liebe, den alten Schuft.



Das nächste Gedicht 

Gruß an Friedrich Hölderlin
Wenn ich mal wieder ein Gedicht schreibe, 
wird es von erbarmender Vergessenheit handeln,
von heiligen Empfindungen,
und vom Entzücken,
von seligem Lächeln auch. 
Ich werde Wörter verwenden wie: 
Zornestrunken, 
Gewölke, 
Fittiche, 
Erdenglück,
gegebenenfalls auch: 
stiller Segen. 
 
Ich kann auch reimen. 
Silben, die keimen, 
die sprossen und blühen 
und sanft erglühen. 
 
Ich werde singen 
vom abgeschiedenen Freunde, 
vom Zürnen und 
von ahnenden Häuptern
und herzergossnen Tränen.
Eine Ode werde ich schreiben 
Oder vielleicht Terzinen, 
alkäische Strophen, 
Alexandriner. 

Auf jeden Fall, sag‘ ich euch,
seid gefasst: 
Trunken dämmert die Seele mir! 

Sommerfrische

 

Fremd das Licht, schon im Aufwachen, fremd der Raum, fremd die Geräusche. Da ist dieses Brausen, dieses Rauschen, ortlos, ohne Anfang, ohne Ende, darüber hin die Möwen mit ihrem aufdringlichen Gezeter, dazwischen einzelne Rufe direkt unterm Fenster, fremde Wörter, fremde Stimmen. Und der Staubsauger weiter vorn im Flur, dessen dreistes Dröhnen ihn geweckt hat. Im Strandhotel.
*
In einem kleinen, überfüllten Laden auf dem Weg zur Strandpromenade hat er ein paar Postkarten gekauft mit Ansichten vom Ort, die er in den fünf Tagen, in denen er schon hier ist, noch nicht gesehen hat. Einen Strohhut mit hellblauem Band hat er auch noch mitgenommen, sich das Preisschild abtrennen lassen und ihn gleich aufgesetzt. Im Café Aux Amis du Vent liegen die Postkarten neben dem Milch-kaffeeglas, und er beginnt zu schreiben, auch wenn seine Worte an niemand Bestimmtes gerichtet sind. Er hat ja auch gar keine Briefmarken. Auf dem Weg zum Hotel denkt er nicht mehr an seinen Hut, der liegt noch auf dem Stuhl an dem Tisch im Café an der Promenade. Dieser unvergleichliche Blick aufs Meer und die Streifen des Sonnenlichts auf den Wellen.
*
Zum Baden ist er nicht ans Meer gefahren. Keine nassen Füße, kein Sand. Kein Sonnenöl, kein Badetuch. Lieber schaut er: all diese Leute. Dann

geht er auf und ab, liest die Zeitung, einige Seiten in dem Buch, das er mitgebracht hat. Urlaubslektüre, das ja, aber kein Urlaubsfoto, kein Urlaubssouvenir, keine Urlaubsbekanntschaft. Er sagt sowieso lieber: Sommerfrische.
*
Wenn sie mit ihm spricht, legt sie immer ihre Hand auf seinen Arm, als wollte sie ihn vorsorglich daran hindern wegzulaufen, bevor sie ihren Tagesbericht beendet hat. Soundso weit ist sie gelaufen, immer an der Wasserlinie, aber der Wind. Sie mag diese Fisch-suppe nicht, Fisch ja, aber keine Fischsuppe. Ein Gläschen in Ehren, das kann er doch nicht ab-schlagen. Wenn alle so angenehm wären wie er, schauen Sie nur, diese Belgierin, gerade sage ich noch. Dann windet er sich heraus, um halb neun das Telefon, meine Mutter, Sie verstehen, so sagt er jedenfalls, bevor er einen schönen Abend wünscht. Ach, ruft sie hinterher, Sie hätten mich sehen sollen, als ich so jung war wie Sie.
*
Heute hat er sich verlaufen, als er eine Drogerie suchte. Plötzlich steht er in einer Seitenstraße, indenen sich Mietshäuser aneinanderreihen, dann eine Autowerkstatt, das Büro der Stadtwerke, eine Grundschule. Der verschossene Ball, die bunten Fantasiekäfer an den Fensterscheiben, ein verdorrtes Beet mit Kräutern und Blumen. Er hat fast ver-gessen, dass der Ort nicht für das süße Nichtstun errichtet wurde, für Leute wie ihn. Schräg gegenüber




ist ein Reisebüro, und er muss über die absurde Situation lachen: Hier buchen Familien eine Ferien-reise nach dort, wo er zuhause ist.
*
Direkt nach der Abfahrt ist er eingeschlafen, und jetzt, da er aufschrickt, sind die ersten schon ausgestiegen. Nur dieses Mädchen sitzt schräg gegenüber und kaut geräuschvoll Fingernägel. Wenn sein Französisch besser wäre, würde er sie bitten, das zu unterlassen. So schauen sie beide aus dem gleichen Fenster, und je nachdem, abhängig von Licht und Schatten, Hell und Dunkel im Drinnen und Draußen, begegnen sich im spiegelnden Glas ihre Blicke vor dem Hintergrund eines Baumarktes, einer Unterführung oder eines Wäldchens. Das nahe Meer, schon so fern, das ist wie eine Stelle in einem Buch, die einen so besonders angesprochen hat, die man aber nicht mehr findet, soviel man auch die Seiten wendet, bis man daran zweifelt, dass es sie jemals gegeben hat.


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