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Ablage gebrauchter Stücke, zu schade zum Wegwerfen

An diese Seite verschwende ich nicht viel kreative Energie, denn hier findet ihr in Zukunft ganz einfach Sachen, die ich auf den vorderen Seiten durch andere ersetzt habe, die ich aber für euch noch aufbewahren möchte, auf einem Stapel, oder ordentlicher: in der Ablage.

Neujahr

Für sie war es ein ganz gewöhnlicher Tag, gefolgt von einem ganz gewöhnlichen Abend. Allein, wie gewöhnlich, nahm sie ein leichtes Abendessen zu sich, nahm ein leichtes Buch zur Hand, hörte leichte Musik dazu, und als sie gegen elf Uhr zu Bett ging, fiel sie sogleich in einen schweren Schlaf. Sehr früh am Morgen ist sie aufgewacht, fast erstaunt über die ungestörte Nachtruhe. In der Küche, noch vor dem Kaffee, verschiebt sie die roten Magnetringe des Wandkalenders: von der 31 auf die 1, von Dezember auf Januar. Und sie fühlt sich – ganz wider Willen – berührt wie von der Feierlichkeit einer heiligen Handlung.

Dezember

Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien. Sie stand am Fenster und schaute in den Garten. So viel Schnee schon im Advent, sagte sie begeistert. Er nahm die Zeitung herunter und antwortete über die Schulter: Es hat aber schon wieder aufgehört. Aber so viel Schnee, beharrte sie. Auf der Fichte turnte ein Eichhörnchen, und wo der Ast wippte, fielen Flecken von Schnee auf die Beete. Sie juchzte. Muss ich fegen?, fragte er hinter der Zeitung hervor. Fegen?, gab sie zurück, und er ergänzte: den Gehweg, wegen dem Schnee. Das Eichhörnchen war zwischen den dichten Zweigen verschwunden. Draußen war es so still wie hier drinnen, wo noch nicht einmal eine Uhr tickte oder ein Kaminfeuer knackte. Nach einer Weile sagte sie zu niemand Besonderen: Aber weiße Weihnacht wäre doch schön.

November

Ich habe immer gedacht, sie würde sich mal um all das kümmern. Aber dann hat sie gesagt, ich soll nicht vergessen, das Licht auszumachen, und dass sie für die nächsten Tage Dauerregen angesagt haben, und ist ins Bett gegangen. Aber statt zu schlafen, ist sie gestorben. Jetzt habe ich das alles an der Backe, wie und was, und das Gesteck, was soll denn gesungen werden, und können Sie uns noch ein schönes Bild? Was war sie denn für eine? Genau das hat der Pfarrer gefragt. Für sie sei mit dem Tod ja nicht alles zu Ende. Eine Nachbarin musste mich unbedingt vor allen Leuten in den Arm nehmen. Ich soll über den Tag hinaus denken. Es muss ja irgendwie weitergehen. Ja, ja, irgendwie, habe ich gesagt, geht schon. Und dann kam sogar noch die Sonne raus, aber auf so etwas gebe ich nichts.

Oktober

Das kann bis Dezember so weitergehen, nörgelte er. Die Frau ließ ihren Hund an dem Laubhaufen schnüffeln, den der Nachbar zusammengekehrt hatte. Könnten denn nicht im Oktober alle Blätter auf einmal … Er ließ den Gedanken unvollendet. Beim Einzug vor ein paar Jahren hatte sie sich in ihn verguckt, aber jetzt wusste sie noch nicht mal mehr, wie er hieß. Sie wollte sich wieder ins Gespräch bringen und erwiderte: Ich finde, die bunten Blätter sehen doch hübsch aus, ich meine, so lange sie noch an den Bäumen hängen. Noch im gleichen Augenblick hörte sie die Absicht heraus und errötete leicht. Der Mann kehrte, wo es nichts mehr zu kehren gab, und verscheuchte damit den Hund. Dann blieb er stehen und sagte, als ob es das Ergebnis gründlicher Abwägung wäre: Pah!


September

Es kann jetzt schon manchmal recht kühl sein, vor allem morgens an der Haltestelle. Da könnte er seine Mütze gut gebrauchen. Wo hat er sie bloß gelassen? Er steht am Fenster und sieht sehr lange hinaus. Wie kann man nur seine Mütze verlieren! Es ist ihm unwohl bei dem Gedanken, dass sie irgendwo herumliegt und er nicht weiß, wo. Vielleicht hat er sie bei der jungen Frau liegen lassen, die er manchmal besucht. Bitte schön, sagt sie, manche wollen sie ja aufbehalten, und er schaut verlegen auf das Tattoo auf ihrer linken Brust. Manche wollen auch die Schuhe anbehalten. Fluchtinstinkt. Das ist nicht seins, nur morgens an der Bushaltestelle, da hätte er gern seine Mütze, wo es jetzt recht kühl sein kann. Als er aus dem Haus tritt, da regnet es auch schon.

August

Nichts gegen Ferien. Aber das Schönste am Verreisen ist doch das Nachhausekommen. Die allmähliche Annäherung, die zunehmend bekannteren Landschaften und Ortsnamen, das einzigartige Bild der Türme und Dächer, die Straße, von hohen Bäumen beschattet, dort das Haus, seit Kindheit vertraut, das Türschloss, das an einer Stelle ein wenig hakt, das Treppenhaus, die eigene Wohnung mit dem unnachahmlichen Geruch, der sich nie verändert, die Garderobe links, der Lichtschalter rechts, der Fleck auf dem Teppich, der Blick aus dem Fenster in den Hof, das Bett mit der viel zu weichen Matratze, der Geruch des Kissens, auf dem noch nie eines anderen Kopf geruht hat als der eigene. Die Träume, endlich wieder die Träume von Ferne, vom Meer, von Abenteuer.

Juli

Aufwachen. Milder Sommerduft blühender Sträucher und feuchten Grases weht durch das halb geöffnete Fenster. Und: Vogelstimmen, diese eine Amsel vor allem. Schritte auf knirschendem Kies, kurze Schritte, feste Schritte, langsame Schritte. Das hohle Scheppern von Zinkblech. Das Rauschen von Wasser in den Gießkannen. Schritte auf knirschendem Kies, schwere Schritte mit schweren Kannen. Frauenstimmen, helle, laute, leise, verschwörerische, dramatische, unverstellte, plaudernde. Dazwi­schen das Friedhofstor: ein Qietsch-Glissando. Gespräche: die Tulpen, die Levkojen, die Bodendecker, das Efeu. Der Vogelmist auf den Grabsteinen, die Kerze in der Laterne: so schnell heruntergebrannt. Der Garagenanbau, Linas Krankheit, und der Sohn ist jetzt auch ausgezogen. Kaffeebesuche, Mitfahrgelegenheiten, und wenn du das nächste Mal zum Karstadt kommst … Aufwachen, wenn der milde Sommerduft hereinweht. Und die Geräusche und Stimmen vom Dorffriedhof nebenan – mitten im Leben.

Juni

Wenn sie die Augen schließt und genießt dieses Schwingen und Schweben, die Hände fest um das alte Seil, die warme Luft des Sommermorgens auf den Wangen, der Stirn, in ihrem Haar, Haut und Haar schon ganz grau, und wenn sie den Geruch einatmet, den Geruch der Goldmelisse, des frühen Lavendels, der Kosmea, des Bauernjasmins, dazwischen die herbe Frische des taunassen Grases, dann wünscht sie sich, dass dies die jenseitige Seligkeit ist, auf die sie wartet. Komm, komm ins Haus!, sagt die Junge. Du kannst doch nicht im Nachthemd! Doch, doch, doch, möchte sie schreien, aber es kann nicht heraus. Du, immer auf der blöden Schaukel! Die Junge hat es ihr schon früher nicht gegönnt und gönnt es ihr jetzt immer noch nicht. Die auf der Schaukel will die Augen nicht öffnen, nie wieder. Kann man denn nicht einfach … in den Himmel schaukeln?

Mai

Ich fahre nach Berndsmühle, sagte sie und reichte dem Schaffner die Fahrkarte. Schön für Sie, antwortete der Mann tonlos. Ich bin nämlich frisch verliebt. Es war ihm unangenehm, das merkte jeder im Abteil. Doch sie plapperte weiter. Wonnemonat. Sie lachte. Er heißt Jim und ist Cowboy. Da hatte sie die Aufmerksamkeit aller. Ja, und Dichter, er schreibt Gedichte. Kleine Gedichte. Er heißt Jim und ist Cowboy?, fragte die ältere Dame am Fenster. Ja, und Dichter. Der Schaffner verschwand schnell, und das Mädchen zog ein Notizbuch aus dem Rucksack. Da!, sagte sie und zeigte stolz eine Seite herum. Dann las sie vor. Wie die Tiere vor der Tränke – sie unterbrach sich. Er schreibt aus dem Leben, aber es reimt sich nicht immer. Also – wie die Tiere vor der Tränke, so schreit mein Herz nach dem klaren Wasser deiner Augen. Sie schaute auf. Alle blickten verlegen aus dem Fenster, wo man nur die Tunnelwand sah. Sie konnten dieses Glück nicht ertragen.

Der Mai ist gekommen

Der Mai ist gekommen.
Es war noch dunkel,
da klopfte er an die Tür.
Er hatte Herrn Frühlings blaues Band
um den Hals gebunden,
weil es so kalt war,
und schüttelte seinen nassen Regenschirm
noch vor der Tür aus.
Dann streckte er mir ein Sträußchen
Vergissmeinnicht entgegen.
Komm rein, sagte ich,
alle Vögel sind schon da!
Er schüttelte sein Haar,
da klingelten die Maiglöckchen ganz fein.
Lange nicht gesehen, sagte ich, und:
Wie geht’s so?, und er:
Könnte Bäume ausreißen!
Hat er aber nicht getan.
Wir haben erst mal gefrühstückt.

Kalenderblätter: April

Die Amsel ist zurück, sitzt im Kirschlorbeer auf ihrem Gelege und brütet still vor sich hin. Ab und zu kommt der Amselgatte und sieht nach dem Rechten, hin und wieder lässt sie das Nest für kurze Zeit allein, um einen Happen zu sich zu nehmen. Immer wenn wir nach ihr schauen, duckt sie sich reglos im Nest, nur die Augen blinzeln. Und während sie dort drinnen vor sich hinbrütet, tobt draußen das Leben. Andere Amseln singen des Morgens und des Abends ihre Lieder von Dachfirsten und Baumwipfeln, machen die Vogeltränke zum Erlebnisbad und ziehen die fettesten Happen aus der Erde und unter den Steinen hervor. Sie aber sitzt nur da und brütet, stundenlang, tagelang. Heute Abend hat sich der Amselmann oben auf die Spitze des Kirschlorbeerbuschs gesetzt und gesungen. Nur für sie.

Kalenderblätter: März

Dieses Jahr würde sie es endlich versuchen mit dem Fasten. Wenn ihre Mutter das hinbekam (Alkohol) und ihre Schwester (Schokolade), dann sollte das auch für sie kein Problem sein. Sie wusste zwar noch nicht, worauf sie verzichten wollte, aber dass sie es tun konnte, das war klar. Sie konnte schon morgen damit anfangen, kein Problem. Sie wollte nicht auf „leibliche Genüsse“ verzichten, sondern auf etwas besinnen, das sie „erbauen“ und in ihrer „Herzensbildung“ weiterbringen konnte. Das hatte sie sich aus einem Roman herausgeschrieben. Sie dachte sehr lang darüber nach, was das bedeutete, und so waren die sieben Wochen im Nu vorüber. Sie aber hatte so lange über ihr Seelenheil nachgesonnen, dass sie sich gegen Ostern wahrhaft gesegnet fühlte und – ja, sie musste es eingestehen – die neidischen Blicke der anderen genoss.

Kalenderblätter: Februar

Es war schon spät, als er sich neben mich an den Tresen setzte. Er sah aus wie ein entfernter Verwandter, dem ich einmal begegnet war. Ich kenne Sie irgendwoher, sprach ich ihn an. Er nahm einen Schluck und erwiderte: Ich bin gerade erst angekommen. Um uns herum lärmte es, die Musik war ohrenbetäubend. Wir waren die Einzigen, die nicht tanzten, sangen, lachten, die nicht kostümiert waren, bunte Hütchen trugen, zuviel getrunken hatten. Ich fragte: Woher?, und er sagte: Aus der Vergangenheit. Da erkannte ich, dass er eine Maske trug. Doch anders als die anderen, die Pandabären, Indianer, Seeräuber oder Ex-Präsidenten, trug er das Gesicht eines Mannes, den ich einmal gekannt hatte. Komm, sagte er, Polonäse, das Leben! Doch da hatte ich ihn schon in der Menge verloren.

Kalenderblätter: Januar

Er dachte, wenn er seine schlechten Angewohnheiten ablegte, dann wäre alles gut. Doch niemandem fiel es auf, dass er gute Vorsätze gefasst hatte, auch ihr nicht, für die er das alles tat. Wir können doch noch mal ganz neu anfangen, sagte er, und seine Stimme klang wie die eines bekannten Schauspielers mittleren Alters aus einer der vielen Vorabendserien. Doch es gibt keinen Anfang mehr, es wird bis zum Ende der Welt nie wieder einen Anfang geben, dazu gibt es zu viele Erinnerungen, das war ihm bald klar. Die Gegenwart saß in der Falle zwischen Erinnerung und Erwartung. Immerhin schneite es jetzt doch noch und deckte das Laub zu, das er noch nicht zusammengefegt hatte.

Lesung

Aus meinem Roman Eine schräge Geschichte, die böse endet habe ich in der Pfarrscheune in Wiesbaden-Igstadt gelesen. Nach einigen Ausschnitten aus dem Buch habe ich als "Zugabe" zwei neue Kurzgeschichten vorgetragen. Mit angehaltenem Atem, entspanntem Lachen und begeistertem Applaus haben die Zuhörerinnen und Zuhörer den Vortrag quittiert und im Anschluss Lesestoff für zu Hause mitgenommen, natürlich mit Widmung und signiert.

Wer kennt Sully Prudhomme?

Ich weiß nicht, ob ihr schon wusstet, dass vor genau 120 Jahren zum ersten Mal der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde. Wusstet ihr, prima, und an wen? An René François Armand Prudhomme (1839 1907ebenan), der sich Sully Prudhomme nannte. Kennt ihr nicht? Keine Schande, heute ist er selbst in Frankreich praktisch unbekannt. Ich habe eines seiner Gedichte für euch übersetzt, aufs Reimen habe ich dabei verzichtet, passenderweise heißt das Sonett „Juni“ und stammt von 1875 aus der Sammlung „Les Vaines Tendresses“ („Vergebliche Zärtlichkeiten“). Hier das Original, nebenan meine Übersetzung (aufs Reimen habe ich verzichtet):

Juin

Pendant avril et mai, qui sont les plus doux mois, 
Les couples, enchantés par l'éther frais et rose, 
Ont ressenti l'amour comme une apothéose ; 
Ils cherchent maintenant l'ombre et la paix des bois.
 
Ils rêvent, étendus sans mouvement, sans voix ; 
Les cœurs désaltérés font ensemble une pause, 
Se rappelant l'aveu dont un lilas fut cause 
Et le bonheur tremblant qu'on ne sent pas deux fois.
 
Lors le soleil riait sous une fine écharpe, 
Et, comme un papillon dans les fils d'une harpe, 
Dans ses rayons encore un peu de neige errait.
 
Mais aujourd'hui ses feux tombent déjà torrides, 
Un orageux silence emplit le ciel sans rides, 
Et l'amour exaucé couve un premier regret.


 

Und dennoch

Jetzt beginnt so ganz die rechte Zeit für mich. Wenn morgens die Frühnebel aufsteigen, der Wetterbericht einen heiteren bis wolkigen Tag verspricht, mit auffrischenden Westwinden, dann fühle ich mich wohl. Wenn beim Spaziergang im Kurpark die ersten bunten Blätter fallen, wenn es noch warm ist, ohne heiß zu sein, wenn es schon kühl ist, ohne schon kalt zu sein: Dann geht es mir gut.
Gewiss: Sommerzeit und Badefreuden, laue Abende und leichte Kleidchen – der Sommer hat auch seine guten Seiten. Der Herbst aber, der hat Atmosphäre.
Das Finale Herbst ist der Zahltag des Jahres – Erntefest, Zeit der Weinlese, an ihm zeigt sich, was der Sommer geleistet hat. Er bringt von allem noch, von allem schon ein wenig: Ein paar Tage mit Sonnenschein und Wärme, an denen man sich noch einmal auf den Parkbänken sonnen kann. Aber auch schon ein paar kühle Nächte, schon dicke Wolken, Regen und Wind. Er bringt noch einmal die Hemdsärmel auf die Straße, aber auch schon die Mäntel, Schals und Mützen.
Der Herbst hat kein blaues Band. Seine bunten Blätter sind nicht die Blumen des Frühlings, der Herbst trägt seine Farben nicht aus Ausgelassenheit sondern aus Galgenhumor. Der Greis Herbst ist voll der Erfahrung eines Jahres, weise und bedächtig, doch nicht ohne Lebenslust und -freude, obwohl er doch weiß, was nach ihm kommt. Und das macht ihn mir so sympathisch, sein: „Und dennoch“.


In des Weihnachtsbaumes Schatten
warten Socken und Krawatten,
Handyhüllen und Kalender
liegen um den Christbaumständer,
Oberhemden, Schlafanzüge,
hat man auch schon zur Genüge,
Damen- und auch Herrenduft
mischt sich in die Kerzenluft.
Wolln wer nicht und ham wer schon
spotten den Präsenten Hohn.
Lass uns, werden viele denken,
dieses Jahr mal gar nichts schenken. –
Und da komme ich ins Spiel,
da ich euch gern helfen will:
Wie wär‘s mit einem Buchpräsent,
das der Beschenkte noch nicht kennt?
Ein Buch zum angemess'nen Preise
von meinem Schreibtisch beispielsweise.
Da hätte ich gleich zwei Ideen –
bitte sehr, ist gern geschehen!


Sommerluft noch im welken Laub

Herbst, du erbst des Sommers reiche Ernte
und besternte Nächte vor den Nebeltagen.
Kalt ist der Abendhauch,
und blass geworden sind die Rosen,
die losen Blätter streu’n sie auf den Weg,
auf dem Zitronenfalter letzte Tänze wagen.
 
Der große Sommer macht sich klein
Und webt Spinnfäden in die Sonnenspuren.
Da ist noch etwas in der Luft,
ein Duft von südlicherem Leben.
Was eben noch so unvergänglich schien,
das jagt der Herbstwind durch die kahlen Fluren.

 
Vom Baum des Jahres fällt nun Blatt um Blatt.
Hat auch das Wolkengrau die Farben weggewischt,
so halt ich die Erinn’rung fest und glaub‘
an Sommerluft noch im welken Laub
.

Juni


Im April und Mai, den mildesten Monaten,
Haben die Paare, verzaubert vom frisch-rosigen Äther,
Liebe wie eine Apotheose empfunden;
Sie suchen jetzt Schatten und Frieden im Wald.
 
Sie träumen, hingestreckt ohne Bewegung, ohne Stimme;
Gemeinsam rasten erschöpfte Herzen,
Erinnern das Bekenntnis, ausgelöst durch einen Flieder
Und das zitternde Glück, das du nicht zweimal fühlst.
 
Die Sonne lachte unter einem dünnen Tuch,
Und, wie ein Schmetterling in den Saiten einer Harfe,
Irrte in ihren Strahlen noch ein wenig Schnee.
 
Doch heute schon senkt sich der Feuer Glut,
Stürmische Stille erfüllt den blanken Himmel.
Und in erhörter Liebe glimmt eine erste Reue.

Aus: Sully Prudhomme, Vergebliche Zärtlichkeit (1875)

Feste feiern

Die Welt steht kopf und wackelt mit den Zehen,
derweil sie mit verbundnen Augen um sich schießt.
Netter Versuch – doch will das niemand sehen,
weil‘s ja bis heute immer gut gegangen ist.
Jetzt gebt mal Ruh‘, man kann es nicht mehr hören!
Solange noch die Welt bei uns nicht untergeht,
da lassen wir die Stimmung uns nicht stören;
sag lieber, wo der blöde Christbaumständer steht!
Der Wald ist hin?: Wir pflanzen schnell ‘nen neuen,
vor Amrum wird die Nordsee endlich wohlig warm.
Es gibt doch immer Anlass, sich zu freuen,
wir tun schon, was wir können und fahr’n abgasarm.
Es ist doch so: Wir können eh nichts ändern,
der kleine Mann (die kleine Frau ist mitgemeint)
sitzt hier, derweil fern in den Krisenländern
ein Reissack umfällt oder auch ein Kleinkind weint.
Auf denn, so machen wir es uns gemütlich,
wer kein Geschenk hat, kriegt auch keines mehr,
und tun uns an Champagnertrüffeln gütlich –
mal richtig loszulassen fällt uns doch nicht schwer.
Okay – die Welt wird bald schon untergehen,
soll sie doch sehen, wie sie ohne uns … egal …
Und wenn der Globus noch so quietscht und eiert,
die Feste fallen, also werden sie gefeiert.


Kaiser Xi weist den Weg

Als der gütige Kaiser in der Weltmitte,
im Reich der verbotenen Worte,
im Territorium der lautlosen Lieder,
in den Provinzen der unsichtbaren Bilder,
in seinem Palast der bescheidenen Begierden
am Morgen des Mondneujahrs
sich nach schlafloser Nacht erhob,
da war ihm, 
als ob er ein Meer aus wogenden Wellen überquert 
und einen eisernen Pass erklommen hatte.
Alle lauschten 
seinen wegweisenden Losungen,
als er sprach:
Glück kann nur dem zufallen,
der hart dafür arbeitet.
Und als der Beifall seiner gelehrigen Berater geendet
und sie ihre Stirn dreimal in den Staub seiner Schuhe gesenkt hatten,
befahl der Kaiser,
Leib und Seele des Reiches,
die nie versiegenden Tränen 
von zwölf mal zwölftausend beschnittenen Waisenknaben
und ebenso vielen tibetischen Jungfrauen
über die Nördlichen Berge auszugießen
und mit ihnen den Großen Kanal zu füllen,
damit das Wort des Kaisers erfüllt werde:
Meine Güte macht die Welt so rein 
wie der Schnee auf den Nördlichen Bergen
und das Eis auf dem Großen Kanal.
Seht, wie der Schnee auf die Berge fällt,
so unschuldig wie die Herzen der Waisen;
seht, wie das Eis auf dem Kanal glänzt,
so stark und fest wie eine Mauer aus Stahl,
so klar und herrlich wie der Weg,
auf dem uns Kaiser Xi, 
ein leuchtendes Beispiel für Jahrhunderte,
unerschütterlich in die Zukunft führt.

Coronabedingt

Coronabedingt zur Zeit geschlossen.
Coronabedingt die Ruhe genossen.
Coronabedingt recht einsam gewesen.
Coronabedingt sehr viel gelesen.
Coronabedingt zuhause geblieben.
Coronabedingt Gedichte geschrieben.
Coronabedingt nur telefoniert.
Coronabedingt abseits spaziert.
Coronabedingt niemand geküsst.
Coronabedingt euch alle vermisst.
Coronabedingt viel selbst gekocht.
Coronabedingt auf Hygiene gepocht.
Coronabedingt dem Tierpark gespendet.
Coronabedingt viele E-Mails versendet.
Coronabedingt nicht im Chor gesungen.
Coronabedingt nicht das Tanzbein geschwungen.
Coronabedingt viel ferngesehen.
Coronabedingt ist sonst nichts geschehen.
 
Doch ganz langsam, mit Abstand, Stück für Stück,
kehrt in den Alltag das Leben zurück.
Jetzt, da die Infektionsrate sinkt,
Bleibt fast nur noch der Mundschutz, coronabedingt.
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